Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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wurde der Familiengruft ein Besuch abgestattet, sein Bildnis mit einem Trauerflor geschmückt und bei der Morgenandacht seiner gedacht. Doch wäre es nicht nur natürlich, ja geradezu selbstverständlich gewesen, dass die Mutter zu diesen Gelegenheiten erzählt hätte, wie und woran der Vater gestorben war? Aber das hatte sie nicht getan. Niemals war die Rede davon gewesen, wie der Vater ums Leben gekommen war, damals, an jenem 6. März vor inzwischen elfeinhalb Jahren ...

      Und auf einmal war sie da, die lange verschüttete Erinnerung, und Sophie war wieder jenes kleine Mädchen, das vor namenloser Angst keinen Schlaf fand, das zitternd in seinem Kinderbett lag:

      Die Schritte des Vaters im Herrenzimmer nebenan, hin und her, hin und her. Die bedrohliche Stille. Dann wieder die Schritte.

      Warum schlief die Mutter? Sie musste doch wissen, dass man in einer Nacht wie dieser nicht schlafen durfte! Wenn der Lichtstreifen die linke Ecke erreichte, würde ein schreckliches Unglück geschehen, etwas Unbekanntes, Unvorstellbares. Konnte man den Mond nicht aufhalten?

      Der Vater hatte sie so angesehen, als sie ihm gute Nacht gewünscht hatte ... Und sie plötzlich an sich gerissen und gedrückt, so fest, dass sie gar keine Luft mehr bekommen hatte ... Und sie genauso plötzlich von sich geschoben und mit einer Stimme gesagt, mit einer Stimme, die er noch nie gehabt hatte: Geh schlafen, meine kleine Sophie! Und wenn du dein Nachtgebet sprichst, dann sprich es auch für mich!

      Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Lieber Gott, mach Papa fromm, dass er in den Himmel komm, dass er in den Himmel komm, dass er in den Himmel komm ...

      Nein! Sie wollte schreien. Sie wollte aufspringen, nach nebenan rennen, sich an Papa klammern, ihn festhalten. Sie wollte Mama aus dem Schlaf rütteln. Aber sie durfte nachts nicht schreien, und sie durfte nicht aufstehen, und außerdem waren ihre Beine so schwer, sie konnte sie nicht bewegen, mit unsichtbaren Stricken waren sie ans Bett gefesselt.

       Da ging nebenan die Tür, ganz sacht. Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Papa war im Flur. Er stand vor ihrem Zimmer, lange. Wenn er doch hereinkommen würde! Sie wollte nach ihm rufen, es ging nicht, kein Laut kam über ihre Lippen. Wenn er hereinkam, dann wurde alles gut. Aber er kam nicht herein. Leise entfernten sich seine Schritte, leise fiel die Wohnungstür ins Schloss. Der Streifen Mondlicht berührte die Ecke. Und aus der Ecke kroch ein furchtbares Ungeheuer, senkte sich auf ihre Brust und erdrückte sie.

      Sie war schuld daran, dass Papa gegangen war. Sie hätte rufen müssen.

      Sophie lag reglos, atemlos. Alles war wieder da: das endlose Grauen jener fernen Nacht, die unbeschreibliche Angst und Qual des Kindes, das sie gewesen war. Und dann erinnerte sie sich an noch etwas, an das, was diese schreckliche Nacht beendet hatte. Sie musste damals doch wieder eingeschlafen sein, denn sie sah sich, das Kind, plötzlich beim Scheppern der Türglocke aufschrecken, sah sich im Bett sitzen, spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals klopfte, wie ihr der Mund ausgedörrt war:

      Das Scheppern der Türglocke — eine fremde Stimme — dann Mamas Stimme — und da, was für ein Schrei! Es war Mama, die da schrie, und doch nicht Mama, es klang ganz fremd. So schrill, so, so ... Mama schrie und schrie und schrie und hörte überhaupt nicht mehr auf.

      Unwillkürlich fasste Sophie sich an die Ohren. Sie meinte ihn immer noch zu hören, nach so vielen Jahren, diesen rasenden, nicht enden wollenden Schrei.

      Auf einmal passte alles zusammen. Eines fügte sich zum anderen: die dunkle Angst, die vage schreckliche Vorahnung, die sie als Kind empfunden hatte, die Bitte des Vaters, in ihr Nachtgebet eingeschlossen zu werden, sein unruhiges Hin und Herwandern im Zimmer, der Schrei der Mutter, die Zeitungsausschnitte — Duell im Morgengrauen.

      Es mussten die Nacht und der Morgen des 6. März 1875 sein, woran sie sich da erinnerte. Ihre Mutter war keine Frau, die aus nichtigem Anlass zu schreien pflegte. Sophie konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter jemals sonst schreien gehört zu haben.

      Wie war dieser Morgen weitergegangen? Was war danach geschehen? Was hatte man ihr gesagt? Doch sosehr sie sich auch das Hirn zermarterte — die Erinnerung an den Todestag des Vaters brach ab mit dem Schrei der Mutter.

      Alles trug sie zusammen, was ihr Gedächtnis über die Monate danach hergeben wollte. Der Vater ist im Himmel, hatte es geheißen, das wusste sie noch, und: Er liegt in der Familiengruft. Aber das hatte für sie nicht zusammengepasst, denn beides zugleich hatte sie sich nicht vorstellen können: dies enge, kalte, düstere Gelass auf dem Friedhof, das von einem schmiedeeisernen Gitter und von einem steinernen Engel mit mächtigen Schwingen bewacht wurde — und den Himmel. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war der Auszug aus der großen Wohnung in die kleine hier, in der es kein eigenes Zimmer mehr für sie gegeben hatte und keinen Platz für ihr Puppenhaus und ihren Kaufmannsladen, und an das Verschwinden von Mousse au Chocolat, Bayerischer Creme und anderen Köstlichkeiten von ihrem Speiseplan.

      Wann hatte sie verstanden, dass ihr Vater niemals wiederkommen würde? Wann hatte sie begonnen, ihn zu vergessen?

      Es war nicht viel, was ihr von ihm geblieben war, Bruchstücke nur von Szenen: wie er ihr Zungenbrecher beibrachte, Fischers Fritze fischt frische Fische, und so warm lachte, wenn sie sich dabei verhaspelte, wie sie an seiner Hand durch den Tiergarten hüpfte oder vor ihm auf dem Pferd saß im Widerstreit zwischen Angst vor der Höhe, Vertrauen in seine sicheren Arme und Glück über diese Nähe zu ihm. Und vor allem seine Stimme, diese liebe Stimme, die sie so entsetzlich vermisst hatte und für die sie auch seine böse in Kauf genommen hätte und selbst das Pfeifen des Rohrstocks, der schrecklich auf den Fingern gebrannt hatte.

      Fröstelnd zog sie die Decke bis ans Kinn. Sie schloss die Augen, vergrub sich ins Kissen. Wenn sie nur diese Gedanken lassen und endlich wieder einschlafen könnte! Sie versuchte sich abzulenken. Gewöhnlich, wenn sie nicht schlafen konnte, dachte sie sich Geschichten aus, die sie über viele Nächte fortspann, ganze Romane über Mädchen, denen das Schicksal übel mitspielte und die dann doch ihr Glück machten. Aber sosehr sie ihre Gedanken auch in eine solche Geschichte zu zwingen versuchte, es gelang ihr nicht. Immer und immer wieder fanden sie sich dort ein, wohin sie nicht sollten.

      War ihr Vater wirklich bei einem Duell ums Leben gekommen? Und selbst wenn es so war, warum sprach die Mutter dann nicht darüber? Duelle wurden ausgetragen, um der Ehre Genüge zu tun oder die Ehre wiederherzustellen. Also war doch auch ein Tod bei einem Duell etwas Ehrenvolles und nichts, was man verschweigen musste?

      In den Fächern des Sekretärs lag weggeschlossen, was ihr Auskunft geben würde. Aber den Schlüssel dazu trug die Mutter an ihrem Schlüsselbund, und den hatte sie stets bei sich, legte ihn nur zum Schlafen ab, und dann steckte sie ihn unter ihr Kopfkissen, als fürchte sie, von dem treuen alten Dienstmädchen bestohlen zu werden. Dabei war Frieda schon bald zwanzig Jahre bei der Mutter und so gut wie Familieninventar.

      Vielleicht aber fürchtete die Mutter viel mehr die Neugier der eigenen Tochter.

      Neugier? Sophie schüttelte den Kopf. Nein, das war es nicht. Es war etwas ganz anderes. Sie spürte plötzlich, dass sie nicht mehr leben konnte, ohne die Wahrheit über den Tod ihres Vaters zu erfahren.

      Aus der Küche nebenan drang leises Rumoren. Frieda stand auf, um den Herd anzufeuern und ihr Tagwerk zu beginnen. Da war auf einmal ein Gedanke in Sophie: Frieda musste es wissen, Frieda war ja damals schon bei der Mutter in Stellung gewesen.

      Sophie lauschte. Die Geräusche aus der Küche, die tiefen Atemzüge der Mutter. Die Mutter schlief. Unendlich langsam und leise erhob sich Sophie und schlich behutsam zur Küchentür, drückte ganz vorsichtig die Klinke herunter und schob sich in die Küche.

      Frieda kniete im Nachthemd vor dem Ofenloch des Herdes, ein graues Wolltuch über den Schultern. Nun fuhr sie zusammen und blickte auf. „Mein Gott, gnädiges Fräulein, haben Sie mich erschreckt! Warum liegen