Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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in Romanen, und an Fürst Andrej kam Leutnant von Oßdorf jedenfalls nicht heran.

      Ihre Mutter war nicht am Platz, aber Frau General von Klaasen beugte sich zu Sophie herüber und forderte sie auf, näher zu rücken. „Wie gut Sie sich machen, Sophie!“, sagte sie freundlich. „Kaum zu glauben, ich sehe Sie noch als kleines Mädchen im kurzen Kleidchen vor mir, und nun sind Sie eine junge Dame und machen auf dem Ball eine ausgesprochen gute Figur.“

      „Ich danke Ihnen, Frau General. Sie sind so gütig.“

      „Ach was! Ich darf so etwas sagen, und mir dürfen Sie es glauben, in meinem Alter ist man über das Schmeicheln hinaus. Dieser Ulanen-Leutnant wollte zudringlich werden, nicht wahr? Hervorragend, wie Sie sich da gehalten und ihn in aller Freundlichkeit in die Schranken gewiesen haben! Ihr Herr Vater hätte heute seine reinste Freude an Ihnen gehabt!“

      Ihr Herr Vater. Dies Wort fuhr Sophie ins Herz. Und auf einmal wusste sie: Das war die Gelegenheit, die sie nicht ungenutzt vorübergehen lassen konnte. Frau von Klaasen war eine alte Freundin der Mutter. Frau von Klaasen würde die Antwort auf die ewig brennende Frage nach dem Tod des Vaters wissen.

      Aber wie es anfangen? Nicht verraten, dass ich selbst sie nicht weiß, sonst wird Frau von Klaasen mir nichts sagen. Die Vermutung als Tatsache hinstellen und aus der Reaktion schließen, ob sie die Wahrheit ist.

      „Ach ja“, erwiderte Sophie. „Was gäbe ich darum, wenn er heute hier dabei wäre, und nicht nur heute! Es ist nicht leicht, so früh den Vater zu verlieren, und dann auch noch“, sie stockte kurz, versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, jetzt kam es darauf an. Sie blickte Frau von Klaasen an, um genau zu sehen, wie ihre Worte aufgenommen wurden: „Und dann auch noch durch ein Duell.“

      Frau von Klaasen nickte, tätschelte leicht ihren Handrücken und verfiel in vertraulichen Ton. „Ich weiß, mein Kind. Aber siehst du, so ist es nun einmal. Mancher junge Mensch hier hat seinen Vater in einem der letzten Kriege verloren, ihn vielleicht nicht einmal kennengelernt. Und die Ehre eines Offiziers geht nun mal über sein Leben.“

      Also war es die Wahrheit. Das Herz schlug Sophie dumpf und schwer. Jetzt musste sie alles erfahren, auch das andere: was zu dem Duell geführt hatte und wer der Gegner gewesen war. „Und mein Vater, weshalb ...“, begann sie mühsam. „Sophie“, hörte sie da die Stimme ihrer Mutter, die soeben an ihren Platz zurückkehrte und die letzten Worte des Gesprächs gehört haben musste, „sei so gut und besorge mir meinen Schal, mir ist etwas kühl!“ Dabei warf die Mutter Frau von Klaasen einen Blick zu, der mehr als deutlich machte: Der Vater, das ist ein Thema, über das vor meiner Tochter nicht gesprochen wird.

      Sophie stand auf. Die Gelegenheit war vorüber und würde nicht mehr wiederkehren. Während sie den Schal holte, würde Frau von Klaasen über das gewünschte Stillschweigen informiert werden.

      Was um alles in der Welt war damals vorgefallen, dass die Mutter ein solch unaussprechliches Geheimnis daraus machte?

      Ein Duell war tragisch, ja. Eine tödliche Krankheit, das wäre etwas anderes gewesen, da hätte man mehr den unerforschlichen Willen Gottes dahinter sehen können und nicht irgendwelche Menschenhändel. Aber ein Duell war doch nichts Unaussprechliches! Einen anderen zum Duell zu fordern, das war eben in manchen Fällen ein Gebot der Ehre, auch wenn es eigentlich verboten war. Aber wenn ein Offizier ein Duell ablehnte, dann verlor er dadurch sein Offizierspatent und musste den Abschied nehmen und war gesellschaftlich untendurch. Wenn das Duell also nur der Ehre des Vaters entsprochen hatte, warum dann dieses Schweigen?

      „Und dann waren wir im Tiergarten Schlittschuh laufen. Mama und Papa waren natürlich dabei, aber sie konnten mit unserer Geschwindigkeit nicht Schritt halten, vor allem Papa, er ist etwas kurzatmig, und wir taten so, als würden wir nicht merken, dass sie immer weiter zurückblieben. Aber du hörst mir ja gar nicht richtig zu!“, rief Cecilie ärgerlich. „Ich berichte dir hier, wie ich das erste Mal mit ihm alleine war, und du zählst die Fäden deiner albernen Stickerei! Interessiert es dich denn gar nicht?“

      „Entschuldige“, erwiderte Sophie, „natürlich interessiert es mich, das weißt du doch. Schlittschuh laufen, ja, das täte ich auch gern. Und dann allein mit Herrn Rosenstock ...“ Ihre Stimme zitterte nicht.

      Samuel Rosenstock, das war vorbei. Unübersehbar machte er Cecilie den Hof, und unübersehbar freute diese sich darüber. Und sie selbst, sie gönnte ihrer Freundin das Glück. Jedenfalls erwartete sie das von sich. Der Sohn eines jüdischen Kleiderfabrikanten mochte zur Tochter eines neureichen Spinnereibesitzers passen, zu ihr tat er es nicht.

      Rasch sprach sie weiter: „Ich brenne darauf, alles zu hören. Aber ich bin hier nun mal an einer schwierigen Stelle mit der Hohlsaumstickerei, da muss ich eben die Fäden zählen, und wenn ich die Stickerei nicht fertig habe, wenn Frieda mich abholt, lässt Mama mich nicht mehr zu dir.“

      Cecilie schüttelte den Kopf. „Du mit deinem preußischen Pflichtgefühl! Deine Mutter ist wirklich zu streng — da bin ich ja froh, dass meine aus dem Rheinland stammt und nicht aus so hohen Kreisen ist wie deine! Mama gönnt mir mein Vergnügen, und vor allem verlangt sie keine sinnlose Arbeit von mir. Immerfort sticken, wozu soll das gut sein? Monogramme in die Aussteuer, ja, das wäre etwas anderes, aber so? Eure Schränke müssen doch schon randvoll mit überflüssigen Handarbeiten sein!“

      Sophie schwieg. Nicht einmal Cecilie durfte wissen, was es mit diesen Handarbeiten auf sich hatte. Am Samstag musste die Decke im Geschäft abgeliefert werden, es war eine Auftragsarbeit für die Tafel eines Ministerialdirektors, wenn sie die nicht rechtzeitig fertig bekam, würde der Ladeninhaber sie ihr nicht mehr abkaufen. Aber das konnte sie Cecilie nicht sagen, so gern sie es auch täte. Sie hatte der Mutter versprechen müssen, mit keinem Menschen, nicht einmal mit ihrer Freundin, darüber zu reden, dass sie sich mit dem Verkauf von Handarbeiten Geld verdienten.

      Sie würden gesellschaftlich geächtet, wenn das herauskäme, meinte die Mutter, und würden von ihren Kreisen nicht mehr zu Gesellschaften geladen und schon gar nicht zu einem Ball.

      Und selbst wenn die gesellschaftliche Ächtung ausbleiben sollte, die Strafe der Mutter würde nicht ausbleiben, wenn sie sich an das auferlegte Schweigen nicht hielt, das war Sophie klar. Dann durfte sie womöglich an keinem Ball mehr teilnehmen.

      Und zu Bällen gehen, das wollte sie um jeden Preis. Dafür nahm sie sogar den Ärger ihrer Freundin in Kauf. Und eines Tages würde sie auf so einem Ball einen kennenlernen, einen, gegen den Samuel Rosenstock verblasste, einen, der nicht so eingebildet und übertrieben zackig war wie Leutnant von Oßdorf, einen, der sie aus der Enge hinausführte, einen, mit dem das Leben begann, das wirkliche Leben: ihr Leben, für das sie geboren war. Doch erst einmal musste sie Cecilie besänftigen. „Also, wie war das beim Schlittschuhlaufen?“, fragte Sophie.

      „Vielleicht erzähle ich es dir ein andermal“, erwiderte Cecilie, noch immer verstimmt. Sie griff nach dem Buch, das auf dem Tisch lag — Krieg und Frieden, jener Roman, dessen ersten Band Sophie sich einst ausgeliehen hatte und in dem sie nicht allzu weit gekommen war, denn ihre Mutter hatte das Buch bei ihr entdeckt und es ihr weggenommen. Mehr noch, um dieses Romanes willen hatte die Mutter Sophie damals für Wochen den Umgang mit Cecilie untersagt, und seither ließ sie sich, wenn Sophie von der Freundin kam, immer den Inhalt der Tasche zeigen, ob sie nicht wieder unerlaubt ein Buch mitgebracht habe. Entwürdigend war das: als sei sie ein sechsjähriges Kind, das es zu gängeln gelte, oder eine gemeine Diebin. Außerdem steigerte es Sophies Interesse an dem Roman immer mehr. In letzter Zeit, seit Cecilie selbst mit seiner Lektüre begonnen hatte, las diese ihr manchmal daraus vor.

      „Magst du zuhören?“, fragte Cecilie. „Ich bin allerdings schon ein paar Kapitel weiter und habe keine Lust, das noch einmal ...“

      „Musst du ja nicht“, sagte Sophie rasch. „Fahr einfach da fort, wo du gerade bist!“

      „Pass nur auf, dass du dich nicht verzählst, wenn es zu spannend wird!“, spöttelte Cecilie. „Es ist nämlich wirklich spannend. Also, es ging gerade darum, dass Pierre mit Dolochow Streit bekommen hat — du erinnerst dich an Dolochow? —, weil Pierre nämlich einen anonymen Brief erhalten hat, dass Dolochow der Liebhaber