Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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So etwas sieht man doch! Völlig indiskutabel. Sein Vater ist wahrscheinlich ein Geschäftsfreund von Herrn Stolze. Nichts gegen Personen mosaischen Glaubens, aber sie sind nun einmal zum Offiziersstand nicht zugelassen. Als gesellschaftlicher Umgang für dich absolut unpassend. Es spricht immerhin für ihn, dass er sich dessen bewusst war — und die anderen Herren nach ihm auch.“

      Etwas wuchs in Sophie, ein Druck tief im Innern, etwas, was ihre Brust ausfüllte und immer weiter anschwoll, was ihr das Gefühl gab, gleich laut schreien zu müssen. Sie presste die Zähne fest aufeinander, hielt die Luft an, solange sie konnte.

      Die Mutter sprach unaufhörlich weiter: „Das Ehepaar Stolze hat sich ja alle Mühe gegeben, präsentable Herren für den Zirkel zu finden — Primaner des nächstgelegenen Gymnasiums die meisten, wie mir Frau Stolze im Vertrauen mitteilte —, aber unsere Kreise sind das wahrhaftig nicht. Dazu ist der Reichtum des guten Herrn Stolze zu neu, der Geruch des Emporkömmlings verfliegt nicht so schnell. Das Kleinbürgerliche haftet ihm an, auch wenn er noch so viel Geld hat, er hat keine Kontakte zu den guten Familien. Du bist ja auch nur deswegen ein von Cecilies Eltern so gerngesehener Gast, weil unser Name sich wie ein Aushängeschild für den gesellschaftlichen Stellenwert des Hauses Stolze macht. Aber gleichviel — uns fehlen nun einmal die Mittel, um wählerisch zu sein. Man muss Opfer bringen. Zum Üben geht dieser Tanzzirkel für dich an. Bald beginnt die Ballsaison, und diesen Winter wirst du dabei sein. Ich werde dafür sorgen, dass du eingeladen wirst — in die richtigen Häuser —, und dafür brauchst du Erfahrung auf dem Parkett. So wie du dich heute gehalten hast, gibst du Anlass zu den größten Hoffnungen.“

      1.2

      Sie wusste, dass sie schön war. Jeder Spiegel im Ballsaal der Villa Generals von Klaasen, worin sie sich beim Vorübertanzen betrachtete, bestätigte es ihr und mehr noch die Augen der anderen. Die Blicke der jungen Damen — schwang nicht Neid in ihnen? Und die Blicke der Herren ...

      Hatte sie sich wirklich einmal für hässlich gehalten, nur weil keiner der Herren aus dem Tanzzirkel gewagt hatte, sie aufzufordern? Was für ein Kindskopf war sie da doch gewesen! Die Mutter hatte recht gehabt: Der Tanzzirkel im Hause Stolze, das waren eben nicht die richtigen Kreise für sie. Walter Wohlschlägel mit seiner tapsigen Ungeschicklichkeit und dem ewigen Rotwerden, sobald er denn endlich einmal einen Satz hervorgewürgt hatte!

      Und Samuel Rosenstock? Schnell schob sie den Gedanken beiseite, sie wollte nicht an ihn denken, heute einmal nicht. Ein paar Mal hatte sie mit ihm getanzt, wenn die Tanzlehrerin einen Wechsel der Tanzpartner befohlen hatte, beim Menuett waren sie einander begegnet, hatten die vorgeschriebenen Komplimente voreinander vollführt, kaum mehr als zehn Sätze hatte sie insgesamt mit ihm gewechselt. Er war Cecilies Herr im Tanzzirkel. Ein Grund mehr, ihn zu vergessen.

      Einen Augenblick fuhr ihr ein Stich in die Brust. Der Herr in Zivil dort, der mit der rundlichen Brünetten tanzte — war er das etwa?

      Nein, natürlich nicht. General von Klaasen lud nicht den Sohn eines jüdischen Kleiderfabrikanten auf seinen Ball. Warum nur erblickte sie in jedem schmalen dunkelhaarigen jungen Herrn mit markanten Gesichtszügen Herrn Rosenstock?

      Nicht denken. Tanzen. Und im Drehen ein flüchtiger, unauffälliger Blick in den Spiegel. Das Ballkleid aus lichtblauer Seide ließ ihre Augen noch blauer leuchten, die Haut ihrer bloßen Schultern noch heller schimmern, ihre Haare noch blonder glänzen. Und nichts verriet, dass diese Seide schon vor über zwanzig Jahren der Baronin von Zietowitz zum Ballkleid gedient hatte. Eine Schneiderin hatte das Kleid vollständig umgearbeitet, es hinten zum modischen Cul de Paris gerafft und die fehlenden Stoffbahnen durch ein Untergewand aus cremefarbenem Taft ersetzt, der einst der Stoff eines Morgenmantels der Mutter gewesen war. Die Mutter aber hatte unter Beweis gestellt, welch eine Meisterin im Sticken sie war: Überall, wo aufgetrennte Nähte im Stoff hätten verraten können, dass es sich um ein umgearbeitetes Kleid handelte, zierten nun kunstvolle Rankenmuster aus Silberfaden das Gewand. Kein Kleid für einen Hofball. Und dennoch ein Traum von einem Kleid, in dem sie sich ohne Scham auf dem Ball in der Villa Klaasen blickenlassen konnte.

      Der Fähnrich, mit dem sie tanzte, ließ keinen Zweifel daran, dass er sie hinreißend fand. Es war ein gutes Gefühl, dennoch berührte es sie nicht. Er war ihr beim Diner als Tischherr zugewiesen worden, und je mehr er sich gemüht hatte, ihr mit lateinischen Zitaten, von denen sie kein Wort verstand, Eindruck zu machen, desto gleichgültiger war er ihr geworden. Aber irgendwo hier im Raum war vielleicht einer, der ihr nicht gleichgültig sein würde, wenn er nur auf sie aufmerksam würde und sie zum Tanz aufforderte. Wenn sie sich nur begegneten. Einer, mit dem das geschah, wovon die Romane erzählten. Der Augenblick, der alles veränderte, der über das ganze Leben entschied. So wie bei Natascha und Fürst Andrej, der die junge Natascha auf dem Ball aufforderte und sie beobachtete, als sie mit anderen tanzte, und plötzlich so von ihr verzaubert war, dass er an Heirat dachte.

      Die Vorstellung, dass hier unter all diesen Herren vielleicht auch einer war, der jeder ihrer Bewegungen mit den Augen folgte, jedes Lächeln registrierte und sich in seinem Herzen für sie entschied, eben jetzt ...

      Und sie ahnte nicht einmal, wer es war!

      Das Blut stieg ihr in den Kopf. Ein Taumel erfasste sie, als hätte sie zu viel Wein getrunken, und es war doch nur ein einziges Glas gewesen.

      Die Musik endete. Der Fähnrich verneigte sich mit militärischer Knappheit. „Verbindlichen Dank, gnädiges Fräulein. Sie tanzen wunderbar!“ Er hielt ihr seinen Arm hin, um sie zum Platz zurückzugeleiten, doch da trat Frau General von Klaasen neben den Konzertflügel und verkündete, dass nun als Höhepunkt des Festes der Kotillon getanzt und ihre Enkelin, Fräulein von Dabarow, als Gütige den Herren ihre Dame zuweisen würde. Die Damen mögen sich doch bitte im großen Kreis aufstellen.

      Ein Stuhl wurde in die Mitte getragen, Fräulein von Dabarow setzte sich darauf, die Tanzkapelle hob wieder mit der Musik an, die Damen begannen sich im Kreis zu drehen, einer der Herren nach dem anderen näherte sich Fräulein von Klaasen, neigte sich höflich zu ihr herab und ließ sich durch einen Fingerzeig die Dame zuweisen, mit der er den Kotillon zu tanzen habe.

      Das ist das Schicksal!, dachte Sophie. Vielleicht werde ich jetzt mit ihm zusammengeführt, mit dem einen ...

      Ein Schaudern war auf ihrer Haut. Wenn ihr Herr sie dann nach dem Tanz nicht sofort an ihren Platz geleitete, sondern nach einem Vorwand suchte, sich weiter mit ihr zu unterhalten, dann war er der Richtige.

      Schon war die Hälfte der Damen vergeben, wurde der Kreis der mit ihr Tanzenden immer kleiner. Da wies Fräulein von Klaasen auf sie.

      Es war ein Offizier, groß, breitschultrig, blond. Eigentlich müsste er ihr gefallen. Aber etwas ließ sie sofort auf Distanz gehen. Vielleicht lag es daran, dass er das Schneidige so offensichtlich vor sich her trug, dass sie es einfältig fand. Er verneigte sich eine Spur zu zackig. „Habe die Ehre, gnädiges Fräulein! Leutnant von Oßdorf. 2. Garde-Ulanen-Regiment.“

      Garde-Ulanen, an Renommee kaum zu übertreffen. Der Mutter würde das gefallen. Dennoch, musste er gleich damit Eindruck zu schinden versuchen? Eine kühle Klarheit war plötzlich in ihr, die sie so noch nicht kannte. Die Worte kamen ganz von selber, all die einstudierten Anstandsregeln und Verhaltensweisen waren auf einmal wie ihre Natur. Sie tanzte perfekt, lächelte strahlend, doch immer ein wenig an Leutnant von Oßdorf vorbei. Der Kotillon und dann der Wiener Walzer. Ihr schien, sie berührte kaum den Boden. Ein Schwindel in ihrem Kopf, drehen und drehen und drehen, Leichtigkeit erfüllte sie. Es war nicht nötig, dass er der eine war, auf den sie wartete, dieser Ulan hier mit seinem Kavalleriestolz, er tanzte gut, das war das Einzige, worauf es jetzt ankam, sie war jung und das Leben lag vor ihr.

      Der Ballsaal flog an ihr vorbei, nichts existierte mehr, kein fester Bezugspunkt, keine Welt, nur dies: der Tanz im wirbelnden Kreisel. Als die Musik verstummte, taumelte sie vor Schwindel. Sofort fasste er nach ihrem Arm, hielt sie, presste sie dabei an sich.

      „Wollen wir ein wenig durch die Gänge wandeln?“, fragte er dicht an ihrem Ohr. „Die Kühle im Wintergarten würde Ihnen nach der Hitze des Tanzes sicher guttun!“

      Sie