Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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ohne ein Wort und niemals wiederkehren. Nein, nicht ohne ein Wort, von Frieda würde sie Abschied nehmen und ihr versprechen, dass sie ihr eine Karte schickte.

      Und dann? Nach Hamburg fahren und sich nach Amerika einschiffen? Ach, was für ein Unsinn, ihr Geld reichte nicht einmal für eine Fahrkarte bis Hamburg, geschweige denn für die Überfahrt nach Amerika! Und auch wenn sie Englisch gelernt hatte, war ihre Bildung ansonsten mit Sicherheit nicht die richtige Voraussetzung, um sich in Amerika durchzuschlagen.

      Also nicht Amerika. Nicht einmal ein paar Straßenzüge weiter in Berlin. Denn schließlich, womit sollte sie ihr Geld verdienen? Mit Sticken vielleicht? Wie wenig man dafür bekam, das wusste sie zur Genüge, es würde für Essen und Kleidung reichen, doch nicht für eine Wohnung oder ein Zimmer in einer anständigen Pension. Eine Stellung als Gouvernante oder Gesellschafterin, irgendwo auf einem Gut in der Mark oder in Ost- oder Westpreußen? Immerhin sprach sie gut Französisch und ganz passabel Englisch, konnte ordentlich Klavier spielen, singen und vorlesen, und in Fragen des Benehmens war sie so sicher, wie man es nur durch eine gute Kinderstube werden konnte. Ja, Gouvernante oder Gesellschafterin, das wäre das Einzige überhaupt, wofür sie das Rüstzeug hätte, was für sie denkbar wäre.

      Aber wie sollte sie eine Anstellung bekommen, ohne Referenzen! Und ohne die Einwilligung ihrer Mutter und ihres Onkels. Mit so einem Namen, den jeder kannte. Keine einzige Familie würde es geben, die eine Zietowitz engagierte, ohne sich zu vergewissern, dass die Baronin von Zietowitz und der Oberst von Zietowitz damit einverstanden wären. Und diese Einwilligung würde sie niemals bekommen, unter keinen Umständen, denn Mutter und Onkel würden es als der Familienehre abträglich empfinden, wenn sie sich für Bezahlung engagieren ließ.

      Und die Verwandten? Konnte sie zu den entfernten Verwandten reisen, bei denen durch das Majorat das Erbe geblieben war, das Schloss und das Gut, und sie um Aufnahme bitten? Sophie verzog das Gesicht. Denen auf der Tasche zu liegen als die arme Nichte, der man wohl oder übel Asyl gewähren musste und die man dafür täglich spüren ließ, wie unwillkommen sie war ...

      Nein. Es gab keinen Ort, wohin sie gehen konnte.

      Wenn nur einer käme, einer, durch den alles anders würde, mit einem Schlag! Einer, der sie fragen würde, ob sie mit ihm käme. Ja, würde sie sagen, bis ans Ende der Welt, und je weiter weg, desto lieber!

      Aber da war keiner. Bei den Bällen zog sie bewundernde Blicke auf sich, das schon, manchmal erhielt sie auch galante Bemerkungen oder gar den Vorschlag eines Ausflugs in den Wintergarten. Aber nicht mit einem der Herren, die sie zum Tanz aufgefordert hatten, war es so gewesen wie mit Fürst Andrej und Natascha. Nicht einer hatte ihr Herz berührt. Und darauf kam es doch an, aufs Herz.

      Sah denn keiner, was für ein Herz in ihr auf ihn wartete? Merkte keiner, dass da eine ganze Welt in ihr war wie ein unterirdischer See, der noch nicht entdeckt worden war? Ein ganzes verborgenes Meer von Liebe und Sehnsucht und Glück, das an die Oberfläche drängte und doch verschlossen war hinter einer eisernen Tür mit sieben Riegeln.

      Ein trockenes Schluchzen war in ihrer Brust. Und sie rettete sich dahin, wohin sie sich immer rettete: in die Geschichten. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie sich immer Geschichten ausgedacht, auch davon geträumt, sie aufzuschreiben, wenn sie einmal groß war, sie hatte ja nicht geahnt, wie wenig Zeit sie haben würde, wenn es erst so weit war. Aber das Geschichtenerfinden, das ging immer weiter. Das war die Flucht, die keiner ihr nehmen konnte, nicht einmal die Mutter.

      Mühelos nahm sie den Faden wieder auf, wo sie ihn ruhen gelassen hatte: bei dem jungen Rittmeister, der auf der Vorhut im Wald in einen Hinterhalt geraten und für tot gehalten und liegengelassen worden war, und bei der Förstertochter, die ihn gefunden und gerettet hatte. Und da pflegte sie ihn nun in ihrem Elternhaus, und keiner durfte wissen, dass er hier war, denn er war ja im Feindesland, und dann kamen Soldaten und ...

      An der Tür, die das Hinterzimmer mit der Küche verband, klopfte es leise, und dann trat Frieda herein, in der einen Hand einen Becher, in der anderen einen Leuchter. „Gnädige Frau“, sagte Frieda, „ich hab' Sie so schrecklich husten hören, da hab' ich den Herd wieder angefeuert und einen Fencheltee gekocht. Wenn Sie mir den Schlüssel zur Speisekammer geben, dann kann ich Ihnen auch noch einen Honig herausholen, das wird Ihnen guttun, es gibt nichts Besseres als heißen Tee mit Honig bei so einem Husten.“ Damit stellte sie Leuchter und Becher auf das Tischchen und beugte sich über das Bett der Mutter, um dieser zu helfen, sich aufzurichten.

      „Mein Gott, gnädige Frau!“, rief sie dann entsetzt. „Sie glühen ja! Und ganz nassgeschwitzt! Schnell, Fräulein Sophie, stehen Sie auf, wir müssen der Frau Major was Trockenes anziehen, sonst verkühlt sie sich noch mehr, und das Bett frisch beziehen, und dann will ich gleich zum Doktor laufen. Ihre Mutter ist gar nicht mehr ganz bei Sinnen vor lauter Fieber! Gott, ach Gott, die gnädige Frau so krank und ruft nicht nach mir! Holen Sie nur gleich ein frisches Nachthemd aus dem Schrank, gnädiges Fräulein!“

      Sophie stieg aus dem Bett, warf sich den Morgenmantel über, schlüpfte in die Pantoffeln und zwängte sich zwischen Tisch und Kommode zum Schrank. Das Nachthemd in der Hand stand sie daneben, als Frieda der Mutter das durchgeschwitzte Hemd auszog und ihr damit Brust und Rücken abrieb. Sophie wollte nicht hinschauen und tat es doch.

      Seit rund zwölf Jahren schlief sie mit der Mutter im selben Raum. Aber noch nie hatte sie diese unbekleidet gesehen, stets zogen sie sich voreinander verborgen hinter dem Paravent um. Und nun war da der nackte Oberkörper ihrer Mutter. Der Busen. Sophie starrte wider Willen.

      Beschämend fand sie es für die Mutter und für sich selbst. Hatte Frieda denn nicht das geringste bisschen Schamgefühl, sonst war Frieda doch auch nicht so! Die Mutter jedoch ließ es ergeben mit sich geschehen, die Augen geschlossen, zu keinerlei Widerstand mehr in der Lage, auch nicht zur Wahrung ihrer Würde. Und an dieser Tatsache plötzlich begriff Sophie: Ihre Mutter war todkrank.

      Da kam Bewegung in Sophie. Sie half Frieda, das Bett frisch zu beziehen, die Kissen aufzuschütteln, der Mutter den Tee einzuflößen und ihr einen Brustwickel zu machen. Sie hielt die Mutter an den Schultern, während ein Hustenanfall sie erschütterte. Dann eilte Frieda davon, und Sophie zog sich rasch an und räumte das Zimmer auf. Die schmutzige Bettwäsche und das gebrauchte Geschirr in die Küche bringen, die Kleider der Mutter hinter dem Paravent verschwinden lassen, das Fenster kurz öffnen, das eigene Bett machen und zudecken, die Petroleumlampe anzünden. Arbeiten, um nicht denken zu müssen. Vor allem nicht das eine: Hat mein Hass sie krank gemacht? Kann mein Hass sie etwa töten?

      Hör auf!, rief sie sich selbst zur Ordnung. Lass solche heidnischen Gedanken! Christlich sind sie jedenfalls nicht. Bete lieber! Aus tiefer Not schrei' ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen. Lass meine Mutter nicht sterben, Gott! So war es doch nicht gemeint. Und selbst wenn sie schuld ist am Tod meines Vaters ... Nein, so geht das nicht.

      Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget werde dein Name ...

      Sie versuchte den Ofen anzufeuern, es gelang ihr nicht, noch nie in ihrem Leben hatte sie sich darum kümmern müssen. Schließlich gab sie es auf. Nun fiel ihr nichts mehr ein, was sie tun könnte.

      Wie lange dauerte es denn noch, bis Frieda endlich mit diesem Doktor Schneider zurückkam! Er würde doch gleich kommen, oder? Und wenn Frieda es nicht schaffte, ihn dazu zu bringen, mitten in der Nacht? Sie hätte lieber selbst gehen sollen, dann hätte er sich nicht entziehen können. Aber nein, das war unmöglich, eine junge Dame durfte nicht nachts auf die Straße, das war ganz und gar ausgeschlossen. Selbst wenn es für die Mutter um Leben und Tod ging?

      Die Mutter hustete, ohne die Augen zu öffnen. Rang spürbar nach Luft. Und dann begann sie zu zittern. Sie zitterte so, dass es sie richtig schüttelte. Gespenstisch klapperten die Zähne aufeinander. Wie weiß ihr Gesicht war und wie unnatürlich rot die Backen glühten! Und die Lippen, bildete sie sich das ein, oder waren die Lippen wirklich bläulich? Und dieses Zittern der Nasenflügel, bei jedem Atemzug bebten sie, so etwas hatte sie noch nie gesehen — Doktor Schneider, um Himmels willen, beeilen Sie sich!

      Sophie sprang auf, deckte ihr Bett wieder ab, nahm ihr Federbett und türmte es über das der Mutter. Die Mutter zitterte vor Schüttelfrost.

      Aus