Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


Скачать книгу

Medizin ist das eine, da tue ich, was in meiner Macht steht, doch ein Serum gegen Pneumokokken gibt es nicht. Oft genug sind uns Ärzten die Hände gebunden, dann heißt es auf das andere vertrauen, auf das, was wir nicht in der Hand haben, das Unwägbare. Da spielen der Glaube hinein und die Gefühle. Vielleicht, wer weiß, gibt die Liebe eines Sohnes den Ausschlag fürs Leben.

      Und die Liebe einer Tochter? Konnte die nicht das Leben herbeiwünschen? Oder der Hass den Tod?

      Sophie grub die Zähne in den Knöchel ihres Daumens. Hass war es doch nicht, was sie ihrer Mutter gegenüber empfunden hatte, das musste sie sich doch nicht vorwerfen, oder? Aber so vieles hatte sie unerträglich gefunden, all dies Starre, das Gegängeltwerden, besonders aber das Schweigen ...

      Am liebsten hätte sie die Gedanken aus ihrem Kopf herausgerissen, die sie in letzter Zeit gehabt hatte, den ganzen Ärger über die Mutter — vor allem aber den schrecklichen Verdacht gegen sie. Es ging nicht. Sie öffnete die Augen. Kein Gedanke an Schlaf. Ihr Blick fiel auf den Sekretär.

      Ich darf das nicht. Sie würde es nicht wollen. Ich würde ihre Krankheit ausnützen, um sie zu hintergehen. Und sie liegt nebenan, krank auf den Tod.

      Aber ich muss es wissen! Jetzt dringender denn je.

      Sophie sprang aus dem Bett, lief zum Sessel, holte den Schlüsselbund aus der Tasche ihres Morgenmantels, den Schlüsselbund der Mutter, der seit deren Erkrankung in ihre Obhut übergegangen war.

      Sie fingerte den kleinsten Schlüssel heraus, den Messingschlüssel mit dem zierlichen Bart, erprobte ihn an der Schreibklappe des Sekretärs. Mühelos ließ diese sich aufschließen. Sophie zog den Stuhl heran, setzte sich, öffnete ein Fach nach dem anderen, blätterte in vergilbten Papieren und alten Briefen, zog Kästchen heraus, fand angelaufene Schmuckstücke, Orden, eine braune Locke am verblichenen blauen Band und getrocknete Blumen, und dann endlich eine Mappe, auf welcher der Name ihres Vaters stand. Schon als sie die Schleife löste, mit der die Mappe zugebunden war, wusste sie, dass sie am Ziel ihrer Suche war.

      Als Erstes fiel die Todesanzeige heraus.

      Ihre Hände zitterten, als sie diese aufnahm, doch erfuhr sie aus der Anzeige nichts, was sie nicht schon wusste — kein Wort von Duell. Dann aber der erste kurze Zeitungsausschnitt:

       Duell im Morgengrauen

      Wie jetzt erst bekannt wurde, fiel Baron Woldemar von Zietowitz, Major des 2. Garderegimentes Seiner Majestät, am vergangenen Dienstag bei einem Duell in den frühen Morgenstunden. Der Zweikampf fand in Anwesenheit der Sekundanten auf dem Tempelhofer Feld statt. Er wurde mit Pistolen ausgetragen. Major von Zietowitz wurde bereits von der ersten Kugel tödlich getroffen. Sein Herausforderer war der Reserveleutnant Walter Hansen, welcher Major von Zietowitz für den Freitod seiner Tochter Elisabeth verantwortlich machte. Major von Zietowitz hatte kurzfristig eine Beziehung zu der bis dahin unbescholtenen fünfzehnjährigen Elisabeth Hansen unterhalten.

      Sophie starrte auf den Zeitungsausschnitt. Sie las, und doch blieb ihr fern und fremd, was sie las. Kein Gefühl, nichts. Langsam erst tropften einzelne Worte in ihr Bewusstsein. Freitod — Beziehung — unbescholtene fünfzehnjährige Elisabeth. Da stand der Name ihres Vaters. Und doch konnte es nichts mit ihm zu tun haben, es war nicht möglich.

      Sie fror.

      Für ungezählte Minuten saß sie zitternd da, spürte nichts als diese Kälte und Fremdheit. Dann endlich griff sie nach dem nächsten Zeitungsausschnitt. Er würde alles zurechtrücken, das Missverständnis erklären, die Wahrheit offenbaren.

      Die ersten Absätze las sie, ohne sie aufzunehmen. Doch dann auf einmal trieb es ihren Herzschlag in die Höhe:

      Elisabeth Hansen war in anderen Umständen. Tragischerweise wusste sich das minderjährige Mädchen in seiner Verzweiflung keinen anderen Ausweg als den Tod. Elisabeth Hansen sprang von einer Spreebrücke und kam ums Leben. Sie hinterließ einen Brief, in dem sie ihre Eltern um Verzeihung für ihren Fehltritt bat und den Namen des Liebhabers offenbarte. Sie habe nicht gewusst, dass Major von Zietowitz verheiratet sei, er habe keinen Ring getragen. Sie sei des Glaubens gewesen, er meine es ernst.

      Ein Laut des Entsetzens entfuhr ihr. Aufspringen wollte sie, weglaufen, nichts wissen von alldem und las doch weiter, nun mit fliegender Hast. Die Zeitungsartikel berichteten immer neue Details, in rücksichtsvollen Worten für den hochrangigen Toten und die Gefühle der Leser die einen, in schonungsloser Anklage oder genüsslicher Breite die anderen:

      Inhaber eines kleinen Dachdeckerbetriebes fordert blaublütigen Major — einzigartiges Duell

      Damit hatte Baron von Zietowitz wohl nicht gerechnet, als er sich den Ehering abzog und beim Tanzen in einem Wilmersdorfer Gartenlokal ein blutjunges Mädchen verführte: dass der Vater des Mädchens als Einjähriger gedient und es bis zum Reserveleutnant in einem Pionierregiment gebracht hatte. Und auf einmal wurde aus einer kleinen Affäre, die der Baron vermutlich mit Geld zu regeln gedachte, ein tödlicher Zweikampf.

      Es darf angenommen werden, dass sich der zweiundvierzigjährige Major des Sittlichkeitsverbrechens der Verführung einer unbescholtenen Minderjährigen schuldig gemacht hat. Sein arglistiges Vorgehen erweist sich darin, dass er sich den Ehering vom Finger zog, ehe er das fünfzehnjährige Mädchen ansprach. Sind in unserem Land unschuldige, ahnungslose junge Mädchen etwa Freiwild? Doch so verständlich die Gefühle sind, die den Vater des unglücklichen Mädchens trieben, den Major zu fordern — man hätte sich gewünscht, Reserveleutnant Hansen hätte stattdessen den Major angezeigt und dieser wäre zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden.

      Gefängnisstrafe?! Wie ein gemeiner Verbrecher! Sittlichkeitsverbrechen ... Schon allein dieses Wort! Und das sollte ihr Vater sein, er?

      Den Ehering abgezogen. Verführung. Minderjährig. Unmöglich, es war unmöglich, und doch, all die Artikel ...

      Und das Mädchen, dieses arme, arme Mädchen. In anderen Umständen!

      Auch wenn die Mutter niemals mit ihr über dergleichen sprach und es in der Schule ein totgeschwiegenes Thema gewesen war, so ahnungslos war sie denn doch nicht, dass sie nicht wusste, was das bedeutete.

      Elisabeth Hansen hatte ein Kind erwartet, und der Vater war schuld daran. Verführt hatte er das arme Mädchen, was auch immer genau das war. Ein Kind zu bekommen, ohne verheiratet zu sein — der Gipfel der Schande. Etwas Schlimmeres konnte es kaum geben. Für eine Offizierstochter unvorstellbar. Vielleicht hätten ihre Eltern sie verstoßen. Da hatte sie sich in ihrer Verzweiflung umgebracht. Mit fünfzehn Jahren.

      Tränen liefen Sophie über das Gesicht, Übelkeit fühlte sie in sich aufsteigen. Sie presste die Hand vor den Mund. Hätte sie diese Papiere nie angerührt! Wüsste sie nur nichts von alldem! Und doch blätterte sie weiter, las, weinte, las. Dann hielt sie plötzlich ein Kuvert in Händen, auf dem Agathe von Zietowitz, der Name ihrer Mutter, stand, wendete es um — und erkannte das erbrochene Siegel ihres Vaters. Das durfte sie nicht lesen, nein, das nicht auch noch. Verrat wäre es an der Mutter, die nebenan lag, todkrank. Verrat auch am toten Vater. Doch —

      Sophie nahm den Papierbogen aus dem Kuvert.

       Liebe Agathe!

      Wenn Du dies liest, bin ich nicht mehr. Das letzte Gegenübertreten wollte ich Dir ersparen — oder auch mir. Ich bin