Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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ergänzte er und legte Paletot, Zylinder und Stock ab. „Wie geht es Ihrer Frau Mutter heute?“

      „Sie schläft fast den ganzen Tag“, erwiderte Sophie, vage enttäuscht. Was hatte sie eigentlich erwartet?

      „Ausgezeichnet“, erklärte er. „Der Körper holt sich, was er braucht. Versuchen Sie, den Schlaf möglichst wenig zu stören.“ Damit war er an der Tür ins Hinterzimmer und ging hinein. Sie folgte ihm.

      Die Mutter schlief. Er beugte sich über das Bett, nahm ihre Hand, fühlte ihren Puls. Sie wachte nicht auf.

      „Wollen Sie nicht erst eine Tasse Kaffee trinken?“, fragte Sophie. „Vielleicht ist meine Mutter später wach.“

      Täuschte sie sich, oder zögerte er? Und in diesem Zögern, das vielleicht gar nicht da war, das sie sich ja vielleicht nur einbildete, in diesem Zögern jedenfalls ergriff sie plötzlich heiß die Scham: Was hatte sie hier arrangiert! Wie musste es wirken! Das war auf einmal nicht mehr der Arzt, der selbstverständlich mit ihr in den Nebenraum ging, um ihr Anweisungen zur Pflege zu geben, ohne die Kranke durch das Gespräch zu stören, das war eine ganz und gar andere, eine ganz und gar unmögliche Situation: sie absichtsvoll allein mit einem Herrn, der nicht zur Familie gehörte! Allein mit ihm im Salon.

      Unmöglich. Unvorstellbar. Ein Angriff auf Sitte und Moral. Was um alles in der Welt würde er nun von ihr denken? Und was sollte sie jetzt nur tun?

      „Gerne, Baronesse“, erwiderte er. „Eine Tasse Kaffee täte mir gut.“

      Es gab kein Zurück. Ihr Herz raste. Vor ihm her ging sie in den Salon und bereute jeden Schritt. Nun war es zu spät. Er folgte ihr. Die Tür aber ließ er weit offen, die Tür zu dem Raum, in dem die Mutter war und jeden Augenblick aufwachen und sie beide im Salon sehen konnte. Und auf einmal war alles gut.

      Gegen diese Situation würde nicht einmal die Mutter etwas einzuwenden haben.

      Ihm konnte sie vertrauen. Und selbst der Fehler, den sie gemacht hatte, dieser unglaubliche Fauxpas, den ihre Mutter, wüsste sie davon, ihr nie und nimmer verzeihen würde, selbst das alles war aufgehoben bei ihm.

      „Bitte, nehmen Sie doch Platz“, sagte sie und wies ihm den Sessel zu, von dem aus er den unmittelbaren Blick auf die Mutter hatte. Sie suchte des Zitterns in ihrer Stimme Herr zu werden. „Hier sehen Sie gleich, wenn Ihre Patientin erwacht.“

      Er dankte und beugte sich zu seiner Arzttasche hinab, holte einen Stapel Bücher heraus. „Wir haben doch gestern von Krieg und Frieden gesprochen. Ich habe Ihnen meine Bände mitgebracht, Baronesse. Wenn Sie die leihweise behalten möchten? Wie ich den Rekonvaleszenzprozess der verehrten Baronin einschätze, wird der Roman gerade so lange zur Lektüre vorhalten, bis Ihre Frau Mutter das Bett wieder verlassen kann.“

      Freude breitete sich in ihr aus, sie spürte selbst, wie ein Strahlen ihr Gesicht verwandelte. „Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Sie ahnen nicht, was für eine Freude Sie mir damit bereiten!“

      „Muss das sein?“, wehrte die Mutter ab. „Ich möchte schlafen. Lasst mir doch meinen Frieden!“

      „Ja, Mutter, das muss. Du weißt doch, Doktor Schneider hat es angeordnet“, erwiderte Sophie. Wie seltsam es war, dass auf einmal sie es war, die der Mutter vorschrieb, was zu tun war, auch wenn sie darin nur ärztliche Anweisungen befolgte. Dennoch, es gab ihr eine Macht, die sie mit leiser Befriedigung erfüllte. Fast schien es, als sei nun sie die Mutter und die Mutter das Kind. Und auch wenn das nur vorübergehend war, eine Folge der Hilfsbedürftigkeit der Mutter — nie mehr würde es so werden, wie es vor der Krankheit der Mutter gewesen war, nie mehr würde diese eine so vollkommene Unterordnung von ihr fordern können, dachte Sophie.

      Mit Frieda gemeinsam half Sophie der Mutter aus dem Bett und zu dem vor dem Fenster zurechtgerückten Lehnstuhl. Mehr trugen sie die Mutter, als dass diese ging. Wie leicht die Mutter geworden war, an ein welkes Blatt fühlte Sophie sich erinnert, aus dem aller Saft und alle Kraft entwichen waren. Aber Doktor Schneider hatte gemeint, sowohl der Gewichtsverlust als auch die enorme Schwäche der Mutter seien kein Grund zur Besorgnis, all das bewege sich im Rahmen, es handle sich nun einmal um eine sehr schwere Erkrankung, die eine lange Rekonvaleszenz erfordere. Herz und Kreislauf seien in Mitleidenschaft geraten, umso wichtiger sei die genaue Befolgung seiner Anweisungen. Zu denen gehörte neuerdings auch das Sitzen im Lehnstuhl am offenen Fenster.

      „Doktor Schneider hat gesagt, zwei Stunden vormittags und zwei Stunden nachmittags sollst du warm eingepackt im Lehnstuhl am offenen Fenster sitzen“, erklärte Sophie. „Das ist wichtig für deine Lungen und für deinen Kreislauf, sagt Doktor Schneider.“

      Sophie hielt sich gern an das, was er anordnete. Es gab ihr Sicherheit, nahm die Last der Verantwortung für die kranke Mutter. Zugleich war es wie eine heimliche Verbindung zu ihm, heimlich, obwohl sie dabei ständig seinen Namen im Munde führte. Aber keiner wusste, wie warm ihr wurde, wenn sie diesen Namen aussprach.

      Zwei Decken hatte Frieda im Lehnstuhl ausgebreitet, auf die sie die Mutter setzten und die sie sorgfältig um sie schlugen, eine von rechts und eine von links. Dann wurde die Pelzstola um die Schultern gelegt — die Mutter hatte einmal erzählt, dass diese ein Geschenk des Vaters gewesen sei, das er aus dem Frankreichkrieg mit nach Hause gebracht habe —, ein Seidentuch wurde um den Hals geschlungen, und die Füße wurden auf einem Schemel gelagert. Sophie öffnete das Fenster, blieb einen Moment darin stehen und blickte hinunter. Die rußgeschwärzte Rückwand des alten Gebäudes, tief unten das Dach der im Hof an das Haus angebauten, äußerst euphemistisch „Appartements“ genannten Abortanlage, der Wäschetrockenplatz und die Mülltonnen, dann die langgestreckten Schuppen, in denen die Herstellung von Bankowskys feinen Stahlwaren stattfand, dahinter die Rückfront der nächsten Häuserzeile. Trostlos pflegte sie sonst diesen Ausblick in den grauen Hinterhof zu finden. Doch heute sah sie die Vorboten des Frühlings. Die letzten Schneereste waren geschmolzen, blau spannte sich der Himmel über Berlin, Spatzen tschilpten in der Regenrinne, die Söhne des Polizeihauptmanns aus der Wohnung unter ihr spielten Knicker im Hof, irgendwo lachten Kinder, aus dem benachbarten Hinterhof drang das Leiern einer Drehorgel herauf und die Moritat vom Frauenzimmer Sabinchen, und die Sonne schien genau in ihr Fenster.

      „Mir ist viel zu warm hier in der Sonne mit dieser Pelzstola“, klagte die Mutter.

      „Schon recht, gnädige Frau“, sagte Frieda gutmütig, „wir legen sie ab, wer hätte auch gedacht, dass die Sonne schon so eine Kraft hat! Aber bald ist sie rumgewandert, die Sonne, dann müssen wir die Stola wieder nehmen, denn verkühlen sollen Sie sich jetzt nicht auch noch, Gott bewahre! Ich rücke Ihnen hier das Tischchen her und stelle die Glocke darauf, läuten Sie nur gleich, wenn etwas ist.“

      „Frieda, du vergreifst dich im Ton!“, meinte die Mutter gereizt. „Wofür hältst du dich? Nur weil ich krank bin, hast du dich nicht aufzuführen, als wärest du mein Kindermädchen!“

      Sophie drehte sich um. Sie spürte diesen Schlag gegen das vertraute Dienstmädchen, als wäre er gegen sie selbst geführt. Und auf einmal war er wieder da, der Zorn auf die Mutter. Das war so ungerecht — nach allem, was Frieda für die Mutter getan hatte!

      Frieda murmelte etwas Unverständliches und verließ mit hochrotem Kopf den Raum durch die Küchentür. „Sie meint es doch nur gut. Sie macht sich Sorgen um dich“, sagte Sophie.

      Die Mutter zog die Augenbrauen in die Höhe. „Das ist kein Grund, den Platz zu vergessen, auf den man gestellt ist“, erwiderte sie kühl. „Es gibt eine Ordnung, und die muss eingehalten werden, alles andere führt nur zur Anarchie. Die einen sind oben und die anderen sind unten, und du, meine Liebe, musst lernen, dich wie eine zu benehmen, die oben ist, und dazu gehört nun mal, die unten auf ihren Platz zu weisen — gut gemeint hin oder her. Und jetzt lass mich allein, das hat mich doch sehr ermüdet.“

      Sophie wandte sich schweigend zum Gehen, aber an der Tür zum Salon drehte sie sich noch einmal um und sah zu der schmalen Gestalt im Lehnstuhl hin. Die Mutter hatte bereits die Augen geschlossen, den Kopf in die Kissen gelegt und wirkte, als ob sie schliefe.

      Wie vertraut ihr diese Frau in den Tagen der schlimmsten