Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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geruht hatte und einmal ihre eigene Hand auf der der Mutter.

      Leise verließ Sophie das Hinterzimmer und trat in den Salon, ließ sich auf dem Sofa nieder.

      Wenn sie nur mit jemandem über die Qual reden könnte, die in ihr war. Dieser furchtbare innere Widerstreit, all das Verworrene. Die Erinnerung an den Vater, zwölf Jahre lang hoch und heilig gehalten — er: erhaben über jeden Zweifel, Held vieler Schlachten, Träger des Eisernen Kreuzes 1. Klasse für hervorragende Truppenführung, ein Ritter schlechthin — und nun das andere: das dunkle Verbrechen.

      Wenn der Vater nur dazu Stellung genommen hätte! Wenn er erklärt hätte, warum er sich den Ehering abgezogen hatte. Sein heimliches Sichdavonstehlen zum Duell ohne Aussprache mit der Mutter, ohne die Möglichkeit des Abschieds — war es Rücksichtnahme zu nennen oder nicht vielmehr Feigheit?

      Bei diesem gedachten Wort zuckte Sophie zusammen. Major von Zietowitz und Feigheit — wie ein Sakrileg erschien ihr dies. Aber hatte er selbst in seinem Brief nicht eine Andeutung in diese Richtung gemacht?

      Sophie stöhnte. All die schon tausendmal gedachten Gedanken, all die tausendfach hin und her gewälzten Sätze aus den Zeitungsausschnitten, all diese Zweifel am Vater und die ebenso häufigen Versuche, ihn vor sich selbst und allen Anschuldigungen in Schutz zu nehmen, all das brach wieder über sie herein wie schon unzählige Male seit der Öffnung des Sekretärs. Es immer und immer wieder wälzen müssen, ohne Anfang und Ende, ohne Aussicht auf Klärung, ohne Aussicht auf Erlösung.

      Den Kopf hätte sie am liebsten gegen die Wand geschlagen, aber das nützte ja auch nichts, um diese Gedanken zu vertreiben. Und keiner, mit dem sie darüber sprechen konnte. Oder doch?

      Ein Bild schob sich vor ihr inneres Auge: der nicht sehr große Mittvierziger mit dem kaum merkbaren Ansatz zur Fülle, sein Gesicht mit dem gepflegten Kinnbart und dem schon etwas zurückweichenden Haaransatz, dem ersten Grau an den Schläfen, diese Augen, die bald ernst und aufmerksam blicken und bald hinter Lachfältchen fast verschwinden konnten, die gepflegten Hände, die ihr voller Behutsamkeit, ja Gefühl erschienen und die doch so sicher zufassen konnten, wenn es um ärztliche Verrichtungen ging ...

      Ja, ihm könnte man vielleicht davon erzählen. Ein Arzt, das war sozusagen einer, der außerhalb der Ordnung stand, einer, dem man sich anvertrauen konnte, oder? Fast wie ein Vater, aber eben auf einer ganz anderen Ebene. Nein, nicht wie ein Vater. Ein Vater hatte zwei Seiten, eine liebevolle und eine strenge. Ein Arzt war da anders. Eher wie ein Priester. Cecilie, die von ihrer rheinländischen Mutter her katholisch war, hatte einmal von der Beichte gesprochen und von ihrem Beichtvater. Seltsam war Sophie das vorgekommen, fast ein wenig peinlich, und doch zugleich auch faszinierend. Nun auf einmal sehnte sie sich danach, einen Menschen zu haben, dem man alles sagen durfte, ohne dabei eine Regel zu brechen. Einen zu haben, der einem zuhörte und der alles zurechtrückte. Einen, der einem half. Und der einem vielleicht sogar erklären würde, was das war: Verführung einer Minderjährigen, Sittlichkeitsverbrechen.

      Aber einen Beichtvater hatte sie nun einmal nicht. Nur einen Arzt, auch wenn er nicht der eigene war, sondern der der Mutter.

      Und wenn Doktor Schneider ihr dann antwortete ...

      Sie schloss die Augen und stellte sich seine Stimme vor, tief und warm. Diesen Tonfall, bei dem sich manchmal unversehens in einem hingeworfenen Nebensatz ein dialektartiger Anklang in das strenge Hochdeutsche mischte, was ihr so liebenswürdig vorkam in seiner fremden Lebendigkeit: als sei er damit als einer ausgewiesen, der unmittelbaren, unverfälschten Zugang zum Leben hatte, mochte die Mutter auch über jede Mundart noch so sehr die Nase rümpfen.

      Woher mochte er kommen, der Doktor Schneider, aus dem Osten irgendwo? Sie konnte ihn ja schlecht danach fragen: Woher stammen Sie eigentlich, Herr Doktor? Das würde sich nicht schicken und würde nach Neugierde aussehen, Neugierde, die ihr schließlich ganz fremd war.

      Bisher hatten sich ihre kurzen Gespräche fast nur um die Pflege der Mutter und um allgemeine Themen gedreht, kleine Salongespräche über Literatur und Musik, bei denen er sich als sehr versiert erwies. Aber vielleicht ...

      Nein, nein, ihm vom Vater erzählen und von den Papieren, die sie ohne Wissen der Mutter gelesen hatte, das konnte sie nicht. Und schon gar nicht diese Fragen stellen, diese Fragen nach dem Unaussprechlichen. Sie müsste daran ersticken, wollte sie versuchen, es über die Lippen zu bringen.

      Sophie schob mit Gewalt die Gedanken beiseite und griff nach dem dritten Band von Krieg und Frieden. Kurz hielt sie ihn geschlossen in den Händen und dachte daran, dass es sein Buch war, das sie da hielt. Dann öffnete sie es. Sie würde mit ihm über das reden, was sie seit seinem letzten Besuch gelesen hatte. Ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch, damit er nicht sofort nach der Untersuchung der Mutter wieder ging. Und sie musste die Tage nutzen, in denen sie die Möglichkeit hatte, dies Buch zu lesen, der Aufsicht der Mutter entronnen.

      Mitten in der Nacht wachte Sophie auf. Sie lauschte nach nebenan ins Hinterzimmer. Durch die angelehnte Tür meinte sie die Atemzüge der Mutter zu hören, leicht und regelmäßig. Kein stöhnendes Luftholen. Kein Husten. Und keine Bitte nach Tee oder einem nassen Lappen oder einer leichteren Decke oder einer wärmeren oder nach sonst einer Handreichung. Sophie wurde nachts von ihrer Mutter nicht mehr benötigt. Nach den Wochen der anstrengenden Pflege könnte sie nun endlich durchschlafen bis in den Morgen. Aber es ging nicht. So sehr war sie inzwischen an Nachtwachen und nächtliche Störungen gewöhnt, dass der Schlaf sie floh.

      Es tat ihr nicht leid. Diese Nächte waren zu schade zum Verschlafen. Wie eine zweite Welt, die sich heimlich unter die erste schob, so erschienen ihr die Nächte, die sie allein im Salon verbrachte, auf einmal — eine Welt, die nur ihr bekannt war. Ein verborgenes Land voller Reichtum, das nur ihr gehörte.

      Für dieses Land nahm sie auch die Müdigkeit in Kauf, die sie tagsüber wie ein Schleier vom Leben trennte und mitunter beim Lesen oder Sticken im Sessel einschlafen ließ.

      Sophie drehte sich auf den Rücken, zwängte sich zurecht. Unbequem war es auf dem viel zu schmalen und überdies auch noch zu kurzen Sofa. Aber was machte das schon! Sie würde sowieso gleich aufstehen. Und schreiben.

      Sie hatte doch schon als Kind gewusst, dass sie das wollte: schreiben. Dass all die vielen Geschichten, die sie sich ausdachte, wenn sie abends nicht einschlafen konnte oder nachts aufwachte und schlaflos dalag, darauf warteten, auf Papier gebracht zu werden. Damit sie blieben.

      Warum hatte sie als Kind nie zur Feder gegriffen? Vielleicht hätte die Mutter damals nichts dagegen einzuwenden gehabt, hätte es als nützliche Übung in Rechtschreibung, Aufsatz und Schönschrift gesehen und erlaubt, solange darunter das Klavierüben, die Hausaufgaben und die Handarbeiten nicht litten. Jetzt aber würde die Mutter es nicht mehr erlauben. Neben dem überlebensnotwendigen Sticken duldete sie nur solche Tätigkeiten, deren Übung unabdingbar war, um gesellschaftlich zu bestehen: Singen, Klavierspielen, Tanzen, französische Konversation und ausgewählte Lektüre.

      Sophie runzelte die Stirn. Müssten sie nicht das Geld für das Offizierspatent ihres Bruders und seine auch nur einigermaßen standesgemäße Lebensführung zusammensparen, so könnten ihre Mutter und sie von der Witwenpension existieren, ohne sich mit heimlicher Lohnarbeit zu quälen. Aber so war das nun einmal. Ein Offiziersanwärter musste nachweisen, dass er nicht mittellos war. Und Karl musste Offizier werden, etwas anderes kam für den einzigen Sohn des Majors von Zietowitz nicht in Frage — der Familienehre wegen. Familienehre! Hatte der Vater die nicht verspielt, als er mit einem minderjährigen Mädchen —

      Nein! Entschlossen warf Sophie die Bettdecke zurück und stand auf. Darüber würde sie jetzt nicht nachdenken, nicht schon wieder. Lieber an Lotte denken, die Förstertochter!

      Sophie tastete auf dem Tisch nach den Zündhölzern, machte die Lampe an, schlich zur Tür und zog sie unendlich vorsichtig zu. Im Morgenmantel setzte sie sich an den zierlichen kleinen Schreibtisch, breitete ein Plaid über ihre Beine und holte den Stapel beschriebener Blätter und den Briefblock aus der Schublade. Kurz verweilte ihr Blick auf der Titelseite: Lotte. Roman von Sophie von Zietowitz.

      Wenn sie ihn wirklich veröffentlichen sollte, würde