Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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spürte Röte ins Gesicht steigen. War er dahintergekommen, dass sie hier stickte, um Geld zu verdienen? Ein Arzt gewann leicht einen Blick hinter die Fassade, war sie nicht wachsam genug gewesen? „Aber das ist doch keine Arbeit“, erwiderte sie rasch.

      „Nicht? Nun, darüber ließe sich streiten, nicht wahr?“ Er schenkte ihr ein so warmes Lächeln, dass ihr Erschrecken verebbte. „Mag es für Sie ein standesgemäßer Zeitvertreib oder eine liebe Gewohnheit sein, oder wie immer Sie es nennen mögen, vom medizinischen Standpunkt aus ist es eine für die Augen, die Feinmotorik, die Wirbelsäule und die Aufmerksamkeit äußerst strapaziöse Tätigkeit und jedenfalls nicht der nötige Ausgleich für Ihren Einsatz bei der Pflege.“

      Sie atmete tief auf. Er hatte ihr trübseliges Geheimnis nicht durchschaut, nichts gemerkt. Und — er hatte wirklich ein ernsthaftes Interesse an ihrem Ergehen! Gar an ihr selbst?

      „Sie sollten lieber ein wenig ruhen, mit einer Freundin ein Stück spazieren gehen oder ein gutes Buch lesen“, fuhr er fort.

      „Ich habe vor einiger Zeit angefangen, Krieg und Frieden zu lesen“, erklärte sie. „Das hat mir sehr gefallen.“

      „Krieg und Frieden“, wiederholte er lebhaft. „Ein wundervoller Roman! Im Übrigen genau das Richtige in Ihrer Situation, wenn ich nur daran denke, wie aufopferungsvoll Natascha den verwundeten Fürsten Andrej pflegt.“

      „So weit bin ich nicht vorgedrungen“, erwiderte Sophie. Draußen hörte sie den Türklopfer. Es würde doch nicht gerade jetzt Besuch kommen? „Das Buch war nur geliehen, ich musste es zurückgeben.“

      „Wie schade!“, meinte er. „Dieser Roman gibt einen so hervorragenden literarischen Einblick in die ganze Weite, Buntheit und Tragik des Lebens. Am liebsten hätte ich ihn in einem Stück gelesen, aber bei meinem Beruf ...“

      Da klopfte Frieda und meldete Herrn Oberst von Zietowitz an.

      Der Onkel? Sonst hätte sie sich über seinen mehr als überraschenden Besuch gefreut, aber ausgerechnet jetzt!

      Sie stand auf. Sofort erhob sich auch Doktor Schneider, und schon trat der Onkel herein. „Darf ich bekannt machen, Herr Dr. Schneider, der Hausarzt meiner Mutter, dem wir zu verdanken haben, dass sie nun wieder auf dem Wege der Besserung ist — Herr Oberst von Zietowitz, mein Onkel“, nahm Sophie die Vorstellung vor.

      Die Herren verneigten sich voreinander und tauschten die üblichen Höflichkeiten, der Onkel erkundigte sich bei dem Arzt nach dem Befinden der Mutter, dann danach, ob er gedient habe, zeigte sich von der Antwort „Oberleutnant der Reserve, Artillerie, Kreuz für Tapferkeit vor dem Feind, vor Noisseville verwundet“ hocherfreut — der ganze Zauber des Augenblickes war unwiederbringlich dahin. Und dann verabschiedete Herr Doktor Schneider sich auch schon.

      „Ich begleite Sie noch zur Tür!“, erklärte Sophie rasch.

      „Aber nein, ich bitte Sie, ich finde hinaus“, wehrte er ab, doch sie beharrte darauf. An der Wohnungstür, im Dämmerlicht des kleinen Flures, standen sie einander gegenüber.

      „Nun, dann bis morgen, Fräulein von Zietowitz, ich denke, von nun an wird es genügen, wenn ich einmal täglich vorbeischaue.“ Er neigte sich über ihre Hand.

      „Ach!“, entfuhr es ihr. Sie wurde rot.

      Er richtete sich wieder auf. Dieser Blick — bildete sie sich das nur ein?

      „So etwa gegen drei Uhr ließe es sich gut einrichten“, fuhr er fort. „Wäre Ihnen das genehm?“

      „Aber ja“, erwiderte sie möglichst beiläufig, um ihren Ausruf vergessen zu machen. „Dann kann ich Frieda sagen, sie soll eine Tasse Kaffee bereithalten.“

      „Das wüsste ich sehr zu schätzen.“ Er lächelte ihr zu und ging.

      Sie stand da und schaute auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte.

      Dann endlich erinnerte sie sich an den Onkel und eilte in den Salon.

      „Na“, meinte dieser, „noch letzte Instruktionen erhalten, was? Diese Ärzte sind doch immer gleich, mein Hausarzt Rübestock ist nicht anders, alles muss haarklein nach ihrem Willen gehen, daraus ziehen sie ihre Existenzberechtigung. Obwohl — Oberleutnant, Kreuz, Noisseville: nicht schlecht. Die verehrte Schwägerin beweist in allem und jedem Standesbewusstsein, auch in der Auswahl ihres Arztes. Nun setz dich mal wieder, Sophie, ich muss mit dir reden! Karl war bei mir, bevor er wieder zu seinem Regiment abgereist ist, du hattest ihm ja telegrafiert, dass es mit deiner Mutter Spitz auf Knopf steht, hättest mir auch Bescheid geben können, Mädchen!“

      Sie murmelte eine Entschuldigung.

      „Schon gut, lass nur, Sophie! Und nun, da wir mal ganz unter uns sind, ohne die wachsamen Ohren und Augen der Frau Major, will ich dir mal eines sagen: Mit deiner Mutter und mir, nun, Schwamm drüber, sind alte Geschichten. Aber in der Not heißt es zusammenhalten, was? Du weißt, ich habe deinem Bruder die Kadettenanstalt bezahlt, mehr konnte ich beim besten Willen nicht aufbringen, aber das ist ja nun vorbei, und jetzt will ich mal ein bisschen was für dich tun. Lass die elende Stickerei, solange du deine Mutter pflegen musst, mir brauchst du nichts vorzumachen, ich kenne eure Situation! Und ich weiß schon, das Honorar für den Arzt und die Medizin, das geht ins Geld, und wahrscheinlich kannst du schon vor Sorge nicht schlafen, weil du nicht weißt, wo du es hernehmen sollst, und deiner Mutter ist jetzt damit nicht zu kommen. Hier, das wird wohl fürs Erste genügen“, und damit griff er in seine Geldtasche und zog drei Hundertmarknoten hervor.

      Kritisch schaute Sophie sich im Salon um. Die Tänzerin aus Meissner Porzellan auf der Kommode stand so, dass man ihren abgebrochenen Fuß sah. Sophie drehte sie anders herum. Das Ölgemälde, das einen fernen Vorfahren — Enzo von Zietowitz — bei der Schlacht von Fehrbellin eindrucksvoll den Heldentod auf seinem zusammenbrechenden Pferd sterben ließ, hing schief, sie rückte es zurecht.

      Auf manche Dinge achtete Frieda einfach nicht, wenn sie sauber machte, dafür fehlte ihr nun mal der Blick. Aber ansonsten strahlte der Salon wieder in einem fast vergessenen Glanz, dass selbst die Mutter nichts auszusetzen gehabt hätte. Der Kronleuchter glitzerte und funkelte, befreit von Rußspuren und Staub. Sie hatte Frieda zu einem Großputz des Zimmers angewiesen, denn es hatte sich bemerkbar gemacht, dass in den Tagen der schlimmsten Erkrankung der Mutter der Haushalt weitgehend zum Erliegen gekommen war. Dafür hatte sie am Vormittag die Pflege und Versorgung der Mutter ganz alleine übernommen.

      Ein Blick auf die Standuhr — Viertel vor drei. Sophie trat vor den Spiegel und betrachtete kritisch ihre Frisur. Wie nachlässig sie in den vergangenen Tagen gewesen war, das Haar nur kurz zusammengedreht und aufgesteckt, oft genug ohne dabei überhaupt in den Spiegel zu schauen! Und mehr als einmal hatte Doktor Schneider sie ohne ihr Korsett im Morgenmantel gesehen, wenn er in den frühesten Morgenstunden seinen ersten Krankenbesuch abgestattet hatte. Nicht einen Gedanken hatte sie darauf verwandt, wie sie aussah und wirkte, es trieb ihr die Röte ins Gesicht.

      Heute endlich waren die Haare frisch gewaschen, gelockt und zu einer so kunstvollen und sorgfältigen Frisur getürmt, wie sie das ohne Hilfe nur fertigbringen konnte. Und ihr Kleid hatte sie aufgebessert, indem sie ein Atlasröschen an den Ausschnitt genäht hatte, das sie von ihrem Tanzkleid abgetrennt hatte. An Tanzen war zurzeit ja sowieso nicht zu denken.

      Sophie lauschte nach nebenan. Die Mutter schlief.

      Sollte sie den Kaffeetisch decken? Ach nein, das würde doch irgendwie zu absichtsvoll wirken. Das Königlich Preußische Geschirr stand auf einem kleinen Silbertablett bereit, das war gerade recht. Die Kaffeekanne hatte sie zum Warmhalten auf den Ofen gestellt. Und die drei Gebäckstückchen, die sie Frieda hatte besorgen lassen, lagen auf dem Teller, als wären sie nichts Besonderes, sondern ganz selbstverständlicher Brauch hier im Haus. Einen Augenblick hatte sie ja auch an Torte gedacht, aber Torte ging entschieden zu weit.

      Sie trat ans Fenster und schaute die Straße hinauf und hinunter. Da hörte sie den Türklopfer. Sie eilte zur Tür. Er war es.

      „Herr Doktor Schneider“, sagte sie, atemlos erschien ihr ihre Stimme, doch wohl nicht