Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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schön, hatte er gesagt, auf so eine ganz besondere, stille Art. Und wie er sie dabei angesehen hatte ...

      Wie schön! Na und? Es hatte nichts zu bedeuten. Denn wenn es etwas zu bedeuten hätte, würde sie jetzt nicht seit drei Tagen auf ihn warten müssen. Es sah ganz danach aus, dass sie noch weitere drei Tage zu warten hätte. Die Mutter hatte erzählt, er würde erst in einer Woche wieder vorbeischauen, der Rekonvaleszenzprozess sei so weit fortgeschritten, dass häufigere Besuche nicht mehr vonnöten seien, habe er erklärt.

      Vonnöten! Wie es ihr, Sophie, damit ging und was für eine Not das für sie war, das spielte offensichtlich überhaupt keine Rolle! Es wäre doch ein Leichtes für ihn gewesen, einen Vorwand zu finden, die Mutter gleich am nächsten Tag wieder zu besuchen. Ein neues Medikament, ein vergessener Hinweis, eine nachträgliche Verordnung ...

      „Du bist so schweigsam, Sophie“, sagte die Mutter.

      Sophie erwiderte nichts.

      „Als Hofdame wärest du nicht eben eine glänzende Gesellschafterin“, meinte die Mutter. „Dazu fehlt dir noch ganz erheblich die Kunst der leichten Konversation.“

      Sophie blickte von der Gobelinstickerei auf zu der schmalen Gestalt im Lehnsessel am offenen Fenster. Auf einmal war sie wieder da, diese Welle von Zorn. „In den vergangenen Wochen habe ich mich ja auch als Krankenpflegerin geübt und nicht als Hofdame!“, gab sie zurück. Sie hörte selbst die Schärfe in ihrer Stimme und tat nichts, um sie zu mildern. All die durchwachten Nächte, all die Mühe bei der Pflege, und dann das! Nicht, dass sie mit Dank gerechnet hätte, die Majorin von Zietowitz bedankte sich nicht bei jemandem dafür, dass er seine Pflicht tat. Aber dies nahtlose Anknüpfen an die alte Gängelei, als sei nichts gewesen, als hätte sich nichts geändert zwischen ihnen — das ging ihr zu weit. Spitz fügte sie hinzu: „Im Übrigen wüsste ich nicht, was ich dir Neues zu berichten hätte. Ich bin ja all die Wochen nicht vor die Tür gekommen, geschweige denn in Gesellschaft.“

      „Nun sei nicht sofort wieder gekränkt, nur weil ich dir sage, in welche Richtung du noch an dir feilen musst!“, antwortete die Mutter. „Du solltest mir dankbar sein, dass ich dir den gesellschaftlichen Schliff beibringe: Er ist das einzige Pfund, mit dem du wuchern kannst. Geld hast du nicht, deine Schönheit ist auch nicht überragend, ein scharfer Intellekt verschreckt die meisten Männer eher, als dass er sie anzieht — womit also willst du andere ausstechen und das Rennen machen, wenn nicht mit gesellschaftlicher Noblesse?“

      „Bin ich ein Pferd, das du ins Rennen schickst?“, warf Sophie scheinbar leichthin ein. Spöttisch sollte es klingen, denn wie sehr die Worte sie verletzt hatten, sollte ihre Mutter nicht merken.

      „Im Übrigen hast du recht, die vergangenen Wochen waren für die Vervollkommnung deiner Erziehung verlorene Zeit“, fuhr die Mutter fort, als hätte sie Sophies Einwurf nicht gehört. „Wir haben einiges nachzuholen, insbesondere deine Einführung in die Gesellschaft. Die Ballsaison ist ja nun leider vorbei. Aber jetzt im Frühjahr wird das Thema Landpartien aktuell. Eine Landpartie bietet reiche Möglichkeiten, sich ins rechte Licht zu setzen und durch Frische, Esprit und Liebreiz auf sich aufmerksam zu machen. Stumm wie ein Stockfisch darfst du da jedenfalls nicht sein. Sobald ich den Salon bei Frau General von Klaasen wieder besuchen kann, werde ich etwas arrangieren. Im Salongespräch lässt sich leicht die Rede auf eine Landpartie bringen, und es gibt immer ein paar Damen und Herren, die sofort dafür zu begeistern sind, auch jüngere Offiziere. Eine Einladung, die sich genauso gut auf dich ausdehnen lässt, ergibt sich dann ganz zwanglos. Du solltest schon einmal deine Garderobe daraufhin durchsehen. Vielleicht können wir noch einmal eines meiner alten Kostüme für dich umnähen. An neue Garderobe ist leider nicht zu denken, aber wir putzen dich schon vorteilhaft heraus!“

      Vorteilhaft — wie das klang! Keine Gelegenheit ließ die Mutter aus, um mehr oder weniger dezent darauf anzuspielen, dass sich Sophies Schönheit nicht mit der messen konnte, für die ihre Mutter einst berühmt gewesen war.

      Ich sollte ihr dankbar sein, dachte Sophie. Sie gibt sich alle Mühe für mich, arrangiert Möglichkeiten, damit ich in die richtige Gesellschaft komme, leiht mir ihren Schmuck, vermacht mir sogar eines ihrer Kleider nach dem anderen, obwohl sie selbst kaum mehr weiß, was sie anziehen soll.

      Warum habe ich nur das Gefühl, schreien zu müssen?

      „Allerdings muss ich erst gesund werden“, erklärte die Mutter nach einer Pause, „denn ohne mich ist es für dich natürlich völlig ausgeschlossen, eine Einladung zu einer Landpartie anzunehmen. Eine andere Anstandsdame als mich haben wir nun mal nicht. Und Landpartien sind gewöhnlich mit Spaziergängen verbunden, und ich ermüde doch noch sehr leicht. Vom Treppensteigen vorhin spüre ich jetzt noch das Herzklopfen und die Schwäche.“

      „Willst du nicht Frieda nach Doktor Schneider schicken?“, fragte Sophie schnell. Sie spürte, wie ihr die Röte in den Kopf stieg. „Vielleicht ist es ja etwas mit dem Herzen!“

      „Ich bitte dich!“, wehrte die Mutter ab. „Natürlich ist es etwas mit dem Herzen, das wissen wir doch. Aber wenn der gute Doktor kommt, ändert das auch nichts, außer an der Rechnung, die wir zu begleichen haben werden, auch wenn er bisher noch keine gestellt hat.“

      Draußen pochte der Türklopfer. Sophies Atem stockte. Doktor Schneider!, dachte sie und musste sich zusammenreißen, nicht aufzuspringen. „Wer das wohl sein mag?“, meinte sie mit scheinbarem Gleichmut und stand langsam auf. „Ich gehe schon.“

      Draußen im Flur warf sie einen Blick in den Spiegel, zupfte ein paar Locken zurecht, biss sich auf die Lippen, kniff sich in die Backen. Dann atmete sie ein paar Mal tief ein und aus. Sie würde ganz überrascht tun, dass er da war. Ich dachte, Sie wollten erst nach einer Woche wiederkommen, würde sie sagen, oder ist die tatsächlich schon vorbei, ich habe gar nicht darauf geachtet.

      Sie öffnete die Tür. Es war nicht Doktor Schneider. Es war ihr Onkel, der Oberst. Mit Mühe versuchte sie die Enttäuschung zu verbergen. „Ach, du bist es, Onkel Albrecht! Willkommen!“ Sie streckte die Hand aus, um seinen Mantel in Empfang zu nehmen.

      Der Onkel betrachtete sie mit einem seltsamen Lächeln. „Na, Mädchen“, meinte er. „Enttäuscht, was? Hast wohl einen anderen erwartet?“ Sie schluckte. Stand es ihr auf die Stirn geschrieben?

      Er lachte. „Was macht die werte Frau Mama?“, fragte er. „Ich hoffe, sie ist nicht indisponiert. Ich habe eine wichtige Angelegenheit mit ihr zu bereden — unter vier Augen. Dann führe mich mal in die gute Stube und hole die verehrte Majorin! Doktor Schneider versicherte mir, die Genesung sei gut vorangeschritten, da wird sie ihren alten Schwager ja wohl empfangen können. Tüchtiger Arzt, das.“

      „Ja“, bestätigte sie, noch immer um Fassung ringend. Sie führte den Onkel in den Salon und ging der Mutter Bescheid sagen.

      „Dein Onkel, Oberst Zietowitz?“, wiederholte diese mit einem verwunderten Hochziehen der Augenbrauen. „Unter vier Augen? Seltsame Töne. Nun, wie auch immer, sag ihm, er möge sich noch einen Moment gedulden, und biete ihm von dem alten Port an. Und dann hilf mir beim Umkleiden. In diesem Hauskleid mag ich ihm denn doch nicht begegnen.“

      Sophie führte alle Aufträge aus, holte die Flasche Port aus dem Schrank, die einzig für solche Gelegenheiten aufbewahrt wurde, schenkte dem Onkel ein, wechselte ein paar höfliche Floskeln mit ihm, kehrte zur Mutter zurück, schloss deren Kleid am Rücken, Häkchen für Häkchen.

      Doktor Schneider versicherte mir ...

      Wann hatte der Onkel denn mit Doktor Schneider gesprochen? Doktor Schneider war doch nicht der Hausarzt des Onkels, sie erinnerte sich genau, wie der Onkel Herrn Doktor Schneider mit seinem Hausarzt verglichen hatte, einem Doktor Rübezahl oder so ähnlich. Oder hatte der Onkel etwa den Arzt gewechselt? Tüchtiger Arzt, das. Wichtige Angelegenheit

      Die Mutter ging in den Salon. Sophie hielt ihr die Tür auf, zog sie hinter der Mutter wieder zu. Doch auch durch die geschlossene Tür vernahm Sophie die schnarrende Stimme des Onkels, seine Begrüßung der Mutter.

      Sophie zögerte. Sollte sie wirklich? Nein. Es gehörte sich nicht, an Türen zu lauschen. Ganz und gar unschicklich war es. Mehr noch — es beleidigte