Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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langer Moment der Leere. Die Tinte trocknete in der Feder. Noch einmal die letzten Sätze lesen: Lotte war von ihrem Vater zur Jagd mitgenommen worden. Auf einmal flossen die Worte, füllten sich die Blätter mit Zeichen. Der Vater und Lotte, Lotte und der Vater. Dann der Schrank. Patronen hatte Lotte holen sollen und sich in der Schublade geirrt. Da sah sie plötzlich die alten Briefe mit dem fürstlichen Wappen, adressiert an den Vater. War das nicht die Handschrift der Mutter? Sie drehte das Kuvert um, da stand der Vorname der Mutter, aber — das konnte doch nicht sein!

      Und auf einmal war das ganze dunkle Geheimnis um die Herkunft der Mutter geboren. Aber ja, ganz deutlich sah Sophie das nun, warum hatte sie bisher nie daran gedacht? Die Mutter, die niemals etwas über ihre Herkunft gesagt hatte, die behauptet hatte, keinen einzigen Verwandten zu haben, alle Fragen über ihre Kindheit hartnäckig unbeantwortet ließ. Diese Mauer des Schweigens, die um die Person der Mutter errichtet war. Und nun auf einmal wurde klar: Lottes Mutter war aus fürstlichem Haus.

      Sophie schrieb wie im Rausch, das Schreiben und die Geschichte und die Wirklichkeit, alles wurde eins: Lotte rang mit sich und wusste, dass sie diese Briefe nicht lesen durfte und der Vater draußen auf die Patronen wartete und sie ihm den Schlüssel zu seinem Schrank zurückgeben musste. Da steckte Lotte die Briefe rasch in ihre Schürzentasche ...

      Die Feder flog über den Papierbogen: Während der Vater einen Hirsch einholte, den er geschossen hatte, saß Lotte im Gras unter einem Baum, holte die Briefe aus ihrer Schürzentasche und las: „Niemals werden meine Eltern einer bürgerlichen Heirat zustimmen. Sie urteilen nicht nach dem Wert eines Menschen, sondern nach seiner Herkunft und seinem Namen. Aber mir zählt die Liebe mehr. Es bleibt uns nur die Flucht.“

      „Ach, Fräulein Sophie, ich denke, Sie schlafen sich endlich einmal so richtig aus nach all den Strapazen, und nun sitzen Sie hier und schreiben Briefe!“ Frieda war hereingekommen und sah Sophie kopfschüttelnd an. „Das wird dem Herrn Doktor aber gar nicht gefallen, wo er doch immer sagt, Sie sollen sich ausruhen.“

      „Ach, Frieda, hast du mich erschreckt!“ Rasch schob Sophie die Blätter zu einem Stapel zusammen. „Ich habe dich gar nicht gehört.“ Sie warf einen Blick auf die Standuhr. „Schon halb acht! Und gegen acht wollte ja Herr Doktor Schneider kommen, weil er heute Nachmittag keine Zeit hat! Ich muss mich rasch anziehen, räume du inzwischen hier die Bettsachen weg und heize ein, ich rufe dich dann, wenn du mir das Korsett zuschnüren musst!“

      „Schon gut, Fräulein Sophie. Die gnädige Frau schläft noch, die will ich lieber nicht wecken, sie soll sich ja gesundschlafen, sagt der Herr Doktor immer. Ich habe Ihnen drüben warmes Wasser hingestellt.“

      „Danke, Frieda. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne dich täte!“ Sophie eilte nach nebenan und verschwand hinter dem Paravent, hinter dem auf einem Tischchen Waschschüssel und Krug bereitstanden. Sie war eben mit Ankleiden und Frisieren fertig, als der Türklopfer ertönte.

      „Schon so spät? Warum habt ihr mich nicht geweckt?“, sagte die Mutter und setzte sich im Bett auf. „Frieda“, rief sie der Dienstmagd nach, die zur Wohnungstür ging, „geleite den Herrn Doktor in den Salon und sage ihm, ich empfange ihn gleich! Und dann eil dich und hilf mir! Sophie, reiche mir den Morgenmantel!“

      Sophie schaute überrascht zu ihrer Mutter. Bisher hatte diese den Doktor immer an ihr Bett kommen lassen. Und nun — ich empfange ihn gleich ... Offensichtlich ging es ihr wesentlich besser. Sophie wollte die Mutter stützen, doch diese wehrte ab. „Lass! Ich bin durchaus in der Lage, auf eigenen Füßen zu stehen. Geh schon in den Salon, es ist unhöflich, den Herrn Doktor so lange warten zu lassen. Ich komme sofort. Und bitte ihn, er möge mir schon ein Rezept für die Herztropfen ausstellen, die neigen sich zu Ende!“

      „Wenn du meinst.“ Sophie zögerte. „Ich lasse die Tür angelehnt.“

      Herr Doktor Schneider begrüßte sie wie immer mit Handkuss, zeigte sich erfreut über die Nachricht, die Mutter wolle das Bett verlassen und in den Salon kommen, und setzte sich bereitwillig an den Schreibtisch, um das gewünschte Rezept auszustellen. Dann sah er den Stapel zusammengeschobener Blätter, sah die Titelseite und wandte sich zu Sophie um: „Sie schreiben einen Roman, Baronesse?“

      Sie stand da, rot übergossen, unfähig, eine Antwort zu geben. Und auf einmal hatte sie das Gefühl, alles, ihr ganzes Leben, hinge davon ab, was er als Nächstes sagen würde.

      „Was für eine wundervolle Idee“, meinte Doktor Schneider. „Die Poesie ist doch das wahre Leben. Darf ich einmal einen Blick hineinwerfen?“

      Sie brachte nicht mehr zustande als ein schwaches Nicken. Ihm genügte es als Antwort. Er blätterte in den Seiten, blieb bei der letzten, las. „Wie schön“, sagte er still. Dann drehte er sich um und sah sie an. „Sind das nur die Worte der Schriftstellerin, Baronesse, oder ist das auch Ihre eigene tiefe Überzeugung?“

      „Was?“, fragte sie mühsam. Ihr Hals war trocken, kaum gehorchte die Stimme.

      „Zählt auch Ihnen die Liebe mehr als Herkunft und Namen?“, fragte er leise.

      „Ich glaube schon“, flüsterte sie. Da trat die Mutter herein.

      Sophie flüchtete, lief durch das Hinterzimmer bis zur Küche. Dort legte sie die Arme um das vertraute Dienstmädchen. „Bitte, Frieda, halt mich doch! So, wie du's früher gemacht hast, als ich noch ein Kind war“, bat sie.

      Frieda zog sie an sich. „Ach Gott, was ist denn, mein Kindchen?“, fragte Frieda und wiegte sich mit ihr.

      „Ich, ich weiß nicht, Frieda. Woran merkt man denn, ob man verlobt ist? Ich meine nicht offiziell, sondern heimlich, unausgesprochen?“

      „Ach Gott, mein Kindchen“, murmelte Frieda und drückte sie. „Ach Gott!“

      Warum kam er nicht endlich! Vier Tage war es nun schon her, dass er in ihrem Romanmanuskript gelesen und ihr diese Frage gestellt hatte — und seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Schlimmer noch: Auch an jenem Morgen hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Als sie aus der Küche in den Salon zurückgekehrt war, endlich so weit gefasst, dass sie sich getraut hatte, ihm wieder gegenüberzutreten, war er schon weg gewesen. Ist denn Doktor Schneider schon gegangen?, hatte sie ganz außer sich gefragt und die Mutter hatte kühl geantwortet: Aber sicher, wenn du so unhöflich bist, ohne ein Wort den Raum zu verlassen, kannst du nicht damit rechnen, dass er auf dich wartet. Immerhin ist er ein vielbeschäftigter Arzt. Er bat mich, dir seine Empfehlung auszurichten.

      Seine Empfehlung. Und seither nichts. Hatte sie sich getäuscht? Sich alles nur eingebildet? Was war denn schon gewesen: Er hatte sie gefragt, ob sie die gleiche Meinung habe wie eine von ihr erfundene Figur. Das war alles. Aber das fragte man doch eine junge Dame nicht einfach so: Zählt auch Ihnen die Liebe mehr als Herkunft und Namen? Jedenfalls nicht, wenn man nur ein Bürgerlicher war, wenn auch ein Oberleutnant der Reserve und ein Doktor, und die junge Dame eine Baronesse. Da musste man doch wissen, dass sich die junge Dame dann etwas denken würde, sich Hoffnungen machen!

      Hoffnungen? Nicht einmal das wusste sie genau: ob sie wirklich darauf hoffte. Eigentlich hatte sie sich das immer ganz anders vorgestellt. Dass da eine Stimme in ihr sein würde, unüberhörbar laut: Das ist er, er und kein anderer. Und ihn, den, um den es dann gehen würde, hatte sie sich auch anders gedacht. Jünger auf jeden Fall und größer und von imponierenderem Äußeren. Und ohne dass sie darüber nachgedacht hätte, war es für sie ganz selbstverständlich gewesen, dass er von Adel sein würde und ein Offizier und nicht nur Reserve. Ein Rittmeister vielleicht, nicht Artillerie, sondern Kavallerie, das war einfach etwas Besseres. Und nun ein Arzt.

      Diese Stimme, so warm und fest und sicher. Dieses Lächeln. Das, was von ihm ausging — wie sollte sie es nennen? Güte vielleicht? Oder ganz einfach: Wissen? Er war einer, der hinter die Fassaden blickte und das wirkliche Leben kannte, in all seinen Facetten. Einer, der nicht gleich alles verurteilen würde, weil es nicht standesgemäß war oder nicht einer jungen Dame gemäß. Er hatte ihr Krieg und Frieden geliehen ohne einen Gedanken daran, das sei vielleicht nicht die richtige Lektüre für sie, und er hatte es wundervoll gefunden,