Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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setzte sich Sophie auf die Bettkante, nahm die heiße Hand ihrer Mutter zwischen ihre Hände und begann zu singen, sang gegen die Verzweiflung an und gegen die Angst, sang das Lied, das ihr früher die Mutter gesungen hatte, wenn sie krank gewesen war: „Der Mond ist aufgegangen, die güldnen Sternlein prangen ...“ Sie sang Strophe um Strophe. Ihr schien, die Mutter wurde ruhiger, das Zittern ließ nach. „Verschon uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsre kranke Mutter auch“, sang Sophie. Da ging draußen die Tür, und kurz darauf trat Doktor Schneider herein.

      Noch niemals war sie beim Anblick eines Menschen so erleichtert gewesen wie jetzt bei seinem. Die Verantwortung in kompetente Hände abgeben zu können und einen Ort zu haben, an den sie ihre Angst tragen konnte. Beinahe wortlos begrüßte sie ihn und machte den Platz frei am Bett ihrer Mutter.

      Die Untersuchung beobachtete sie von ferne, das Fiebermessen, das Abklopfen und Abhorchen der Brust, das Pulsfühlen. Wie routiniert er das alles machte, wie sicher und doch gleichzeitig behutsam — ihm konnte man vertrauen. Er würde wissen, was zu tun war. Als die Mutter von einem neuen Hustenanfall erschüttert wurde, wandte er sich an Frieda: „Ein Spucknapf! Rasch!“ Dann sprach er eindringlich auf die Mutter ein: „Bitte, gnädige Frau, spucken Sie den Auswurf aus, hier in die Schale, vergessen Sie ausnahmsweise Ihre Kinderstube, ich muss mir das Sputum ansehen!“ Und die Mutter, die Sophie noch niemals hatte spucken sehen, fügte sich.

      Ermattet sank die Mutter in die Kissen zurück. Er betrachtete den Inhalt das Spucknapfes — Sophie warf von weitem einen kurzen Blick darauf und erschrak zutiefst, als sie etwas Rotes sah: Blut! —, dann entnahm er seiner Tasche ein Gefäß und wusch sich die Hände. Sie erkannte den scharfen Geruch: Karbolsäure. „Gnädige Frau, Sie haben eine akute beidseitige Pneumonie, will sagen eine heftige Lungenentzündung. Damit ist nicht zu spaßen“, erklärte er mit großem Ernst und legte seine Hand auf die der Mutter. „Wenn Sie es wünschen, weise ich Sie in die Charité ein.“

      Die Mutter öffnete die Augen. „Nicht die Charité!“, brachte sie nach Luft ringend hervor. „Keine Klinik. Zu Hause. Sophie ...“ Hilfesuchend ging ihr Blick zu Sophie, ehe sie wieder die Augen schloss.

      Sophie schluckte. Nur zu klar war ihr, warum die Mutter eine Klinik ablehnte: Sie hatten das Geld nicht dafür.

      Sie kniete am Lager der Mutter nieder, griff nach deren Händen. „Mutter“, fragte sie drängend, „Mutter, sag mir doch, wir könnten ja das Meissner Porzellan verkaufen oder die Standuhr, Mama, bitte ...“

      Die Mutter gab keine Regung von sich. Sophie starrte ihr ins Gesicht und begriff: Die Mutter war nicht mehr ansprechbar. Jetzt kam es nur noch auf sie an. Einer plötzlichen Eingebung folgend, wollte sie sich über die Mutter beugen und sie auf die Stirn küssen, doch der Arzt legte ihr die Hand auf die Schulter und hielt sie zurück. „Nicht, Baronesse! Kommen Sie Ihrer Frau Mutter nicht so nahe, es besteht Infektionsgefahr!“

      „Infektionsgefahr?“, fragte sie und zuckte zurück.

      Er nickte. „Pneumokokken. Das Bakterium hat Professor Koch vor einigen Jahren isoliert. Sie müssen sich vor Ansteckung hüten. Kein unmittelbarer Kontakt mit der Frau Major, schon gar nicht mit dem Sputum, dem Auswurf — immer die Hände desinfizieren, ich erkläre es Ihnen gleich. Und niemals anhusten lassen, wir wollen doch nicht zwei Patientinnen haben! Das ist einer der Gründe, warum ich die Klinik vorgeschlagen habe. Aber wenn Sie und das Dienstmädchen sich an meine Instruktionen halten, werden wir das in den Griff bekommen.“

      „Sie meinen, es geht auch zu Hause?“, fragte sie mühsam den Arzt.

      Dr. Schneider nickte. „Wenn ich der Meinung wäre, dass die Einweisung in die Klinik die einzig richtige Entscheidung wäre, hätte ich das mit großer Bestimmtheit erklärt und nicht Ihrer Frau Mutter anheimgestellt. Im Gegenteil, vielleicht sind die Heilungschancen zu Hause sogar besser. Viel ausrichten kann die Klinik auch nicht. Jetzt ist alles eine Frage der richtigen Maßnahmen und der richtigen Pflege, der Konstitution Ihrer verehrten Frau Mutter und des Willens von dem da oben“, damit drehte er seine Augen kurz zur Zimmerdecke.

      „So ernst?“, brachte Sophie heiser hervor.

      „Ernst“, bestätigte er ruhig, „aber ich habe die Hoffnung, dass die verehrte Frau Major durchkommt. Am meisten Sorge macht mir nicht die Lunge, sondern das Herz. Ich schreibe Tropfen dafür auf, Hustensaft, Stärkungsmittel, alles, was möglich ist. Doch das Wesentliche ist die Pflege. Soll ich Ihnen behilflich sein, eine professionelle Pflegerin zu engagieren?"

      Sie schüttelte den Kopf. „Nein, die Pflege übernehme ich selbst. Oder meinen Sie, ich kann das nicht?“

      Er lächelte. „Sie können es mit Sicherheit, gnädiges Fräulein, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Allerdings steht Ihnen da eine anstrengende Zeit bevor. Doch der Tochter eines preußischen Offiziers liegt die Pflichterfüllung im Blut, nicht wahr? Ich bin gewiss, Sie werden meine Anweisungen auf das Genaueste einhalten. Und ich werde zweimal täglich vorbeischauen. Gehen wir in den Salon, dann erkläre ich Ihnen, worauf es ankommt!“

      Sophie nickte. Sie würde alles tun, alles.

      „Ich habe drüben eingeheizt“, erklärte Frieda, vom Salon hereinkommend. „Jetzt legen Sie sich nur noch einmal hin, Fräulein Sophie, ich bin wieder an der Reihe am Bett von der gnädigen Frau! Sie müssen zusehen, dass Sie bei Kräften bleiben. Wenn Sie auch noch krank würden, nicht auszudenken!“

      Sophie nickte und stand auf. Seit die Mutter krank war, hatte Frieda stillschweigend so etwas wie eine Mutterrolle übernommen, und obwohl das nicht in Ordnung war, es tat gut.

      Sophie achtete darauf, dass alle Anweisungen von Doktor Schneider erfüllt wurden: die richtige Lagerung der Mutter im Bett mit einer zusammengerollten Decke unter dem Brustkorb, das Befeuchten der Luft mit nassen Tüchern überall im Raum, das gründliche Lüften und immer wieder die Freiluftbäder, für die sie das Bett direkt ans offene Fenster rückten und bei denen die Mutter genau beobachtet werden musste, damit sie sich nicht abdeckte und verkühlte, die Herztropfen und der Hustensaft, die Brustwickel und Einreibungen, die fiebersenkenden Maßnahmen, das unermüdliche Einflößen von Honigtee und alles andere. Frieda aber achtete auf das Aufrechterhalten des Haushaltes und vor allem auf sie, auf Sophie.

      „Was täte ich nur ohne dich, Frieda?“, seufzte Sophie und lächelte müde der alten Dienerin zu.

      „Nun aber mal halblang!“, meinte diese. „Ich hab' Sie gepflegt, als Sie die Masern, die Windpocken und den Keuchhusten hatten — und da soll ich mich jetzt nicht um Sie sorgen dürfen?“

      „Ach, Frieda!“ Ein letzter Blick auf die Mutter, die mit geschlossenen Augen dalag und stöhnend nach Luft rang. Konnte sie sie jetzt wirklich verlassen? Ihr schien, der Atem ging immer schwerer. Und das Fieber war höher denn je. „Aber wenn etwas ist, dann rufst du mich gleich! Und wenn Herr Doktor Schneider kommt, auch!“

      „Aber ja doch, gnädiges Fräulein, da können Sie ganz getrost sein!“, beruhigte Frieda sie.

      Sophie ging in den Salon, in dem auf Anraten von Doktor Schneider nun auf dem Sofa ihr Lager aufgeschlagen war, zog den Morgenmantel aus und schlüpfte unter die Decke. Todmüde fühlte sie sich, zum Umfallen erschöpft. Die erste Hälfte der Nachtwache hatte Frieda gehalten, doch seit Mitternacht sie selbst. Draußen graute der Morgen nach einer Nacht, in der sie Stunde um Stunde in dem Sessel gesessen, die Mutter beobachtet und ihr Handreichungen gemacht hatte. Sie war am Ende. Nur eine halbe Stunde schlafen —

      Kaum lag Sophie, war sie überwach. Ihre Augen brannten. Unruhe im ganzen Körper. Ein dumpfes Ziehen und Krampfen in den Beinen.

      Dreimal war Doktor Schneider gestern gekommen. Drei Mal. Das sagte mehr als alle Worte: Es stand äußerst ernst um die Mutter.

      Und wenn die Mutter starb?

      Sophie presste die Faust vor den Mund. Soll ich meinem Bruder telegrafieren, er ist in Westpreußen stationiert?, hatte sie gestern Abend den Herrn Doktor gefragt. Er hatte kurz überlegt und dann genickt: Telegrafieren Sie, gnädiges Fräulein. Er soll dringend um Urlaub ersuchen — die Krankheit nähert