Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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sie ja keine Beweise. Im Grunde waren es nicht mehr als Vermutungen. Vielleicht hatte das Duell auch einen anderen Anlass gehabt. Aber sie wusste genau, dass der Vater damals von der Mutter nicht Abschied genommen hatte. War das nicht Beweis genug?

      Das Adagio klagte leiser, doch nicht weniger schmerzvoll. Ihr war, als würde ihr Herz verbluten, während sie es spielte. So wie das Herz ihres Vaters verblutet war.

      Schließlich saß Sophie still am Klavier, das Gesicht in den Händen verborgen.

      Aus dem Hinterzimmer drang das Husten der Mutter und dann ihr Rufen: „Komm wieder sticken, Sophie!“

      Mit einem heftigen Knall schloss Sophie den Klavierdeckel. Kurz suchte sie den Blick des Vaters auf dem Gemälde über der Kommode. „Ich bekomme es heraus!“, versprach sie ihm flüsternd. Dann ging sie zur Mutter.

      Sehr gerade saß diese dicht am Fenster, den Stickrahmen mit der Gobelinstickerei in der Hand. Garnstränge in den verschiedensten Farben waren auf dem Tisch vor ihr ausgebreitet. Mit kühlem Blick musterte Sophie ihre Mutter wie eine Fremde, betrachtete sie aus lieblos kritischer Distanz, sah die feinen Linien um den Mund, die von Enttäuschung, Stolz und Selbstbeherrschung sprachen, bemerkte die auffällige Blässe und die Müdigkeit, welche die Augen umschattete. „Du bist erschöpft“, stellte sie fest und hörte selbst den Klang ihrer Stimme, kalt und ohne Mitgefühl. „Wenn Vater noch lebte, bräuchten wir nicht den ganzen Tag zu sticken!“

      „Wenn!“, erwiderte die Mutter harsch. „Nun ist es, wie es ist. Eine Zietowitz tut in jeder Lage ihre Pflicht — und eine geborene Rieskow allemal. Außerdem bin ich nicht erschöpft, sondern erkältet. Ich habe Frieda schon zum Prinz-Albrechtschen Garten geschickt, damit sie mir eine Flasche Brunnenwasser von dort bringt. Falls das gegen den Husten nicht hilft, werde ich nach Doktor Schneider schicken müssen. Freilich — die Ausgabe würde ich gerne sparen.“ Die Mutter hustete und presste dabei ihr Taschentuch an den Mund. Sichtlich bemühte sie sich, den Husten zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht.

      Sophie setzte sich und nahm ihre Stickerei wieder auf. „Halte dich gerader!“, ermahnte die Mutter sie, kaum dass der Hustenanfall vorbei war. „Du weißt doch, eine Dame muss so aufrecht sitzen, als ob sie ein Lineal im Rücken hätte! Leicht sollst du wirken beim Sticken, vergiss nicht, in den Augen der Gesellschaft vertreibst du dir die Zeit mit einer angenehmen Beschäftigung. Kein Beobachter dürfte auch nur von dem Gedanken gestreift werden, es sei eine Arbeit, die du verrichtest. Eine Dame arbeitet nicht. Und wenn sie es doch tut, dann muss es aussehen wie Müßiggang. Dieser Grundsatz muss dir in Fleisch und Blut übergehen, zu deiner zweiten Natur werden. Du aber beugst dich über deine Stickerei, als wärest du eine x-beliebige Näherin.“

      Sophie schwieg. X-beliebige Näherin. Wie sie solche Sätze hasste!

      „Und was das Presto angeht — technisch perfekt. Aber dieser Ausdruck: alles andere als angemessen, Sophie. So könntest du es auf keiner Gesellschaft hören lassen, es klang ja, als wolltest du auf die Barrikaden von Paris stürmen! Und nicht als Soldat des Königs, sondern als dieses unsägliche Weib mit der Fahne in der Hand, wenn du weißt, welches Gemälde ich meine. Das Schlimmste aber war deine Haltung dabei, oder besser gesagt deine exaltierten Bewegungen, alles andere als damenhaft, völlig selbstvergessen. Dazu neigst du überhaupt beim Pianospielen. Übertriebenes Mitgehen mit der Musik wirkt bei einer Dame deplatziert, um nicht zu sagen degoutant. Nun schau nicht so beleidigt, ich will dir mit meiner Kritik doch nur helfen, vor den Augen der Gesellschaft eine gute Figur zu machen!“

      Sophie biss die Zähne aufeinander. Nichts sagen, sonst würde sie schreien. Nichts sagen, dann ging es vorüber.

      Schweigend arbeiteten sie. Unter Sophies Händen entstanden die Umrisse einer Rosenblüte, die Blätter, der Stiel. Sie sah kaum, was sie schuf, unzählige Male hatte sie schon das gleiche Muster auf Handtäschchen, Sofakissen, Schmuckdöschen und Polsterbezüge gestickt.

      Hin und wieder streifte sie von der Seite das Gesicht ihrer Mutter mit einem kurzen Blick. Die Mutter schien wirklich krank zu sein. Das Atmen machte ihr Mühe, feine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, und ihre Augen wirkten seltsam matt und glänzend zugleich.

      Hat diese Frau da meinen Vater auf dem Gewissen? Hat sie ihn verlassen wollen, meinen Bruder und mich verlassen wollen, mit einem anderen Mann die Flucht geplant? Beziehung. Was sind diese sogenannten Beziehungen, dass sie so unaussprechlich sind und Offiziere sich deswegen duellieren? Um einen Kuss allein kann es dabei nicht gehen, da muss noch etwas anderes sein, etwas Dunkles, Verborgenes, etwas, was ich nicht wissen soll, weil es angeblich die Unschuld einer höheren Tochter gefährdet. Du sollst nicht ehebrechen ...

      Und wenn ich ihr nun unrecht tue? Wenn meine Mutter am Tod meines Vaters unschuldig ist und ich sie hier ganz fälschlich verdächtige? Dann versündige ich mich gegen sie.

      Mein Gott, hilf mir doch! Ich halte diese Gedanken nicht mehr aus!

      Der Mann lag mitten im Schnee, kopfüber. Ein Säbel steckte in seinem Rücken. Nun erhob er sich taumelnd, drehte sich herum, brach wieder in die Knie. Blut lief über seine weiße Weste und tropfte in den Schnee, färbte ihn rot.

      Sie wusste, sie musste ihm helfen. Aber sie stand starr und konnte sich nicht rühren. „Deine Mutter“, flüsterte er heiser, „sag ihr ...“ Er fiel vornüber, sein Gesicht grub sich in den Schnee. Keuchend ratterte ein Dampfzug über den Bahndamm.

      Mit klopfendem Herzen lag Sophie im Bett. Die Mutter hustete. Sophie drehte sich auf die Seite, drückte das eine Ohr auf das Kopfkissen, presste die Zudecke gegen das andere, es nützte nichts. Wie sollte man schlafen bei diesem ständigen Husten der Mutter?

      Wie sollte man schlafen bei solchen Träumen?

      Die ganze Nacht schon jagten sie sich, einer nach dem anderen.

      Immer und immer wieder der Vater in seinem Blut. Deine Mutter, sag ihr ...

      Nun hatte sie die letzten Worte des Vaters nicht gehört, konnte seinen Willen nicht erfüllen. Würde die Wahrheit nie erfahren.

      Am liebsten wäre sie aufgestanden, hätte die Mutter bei den Schultern gepackt, hätte sie gerüttelt und angeschrien: Hör auf zu husten! Sag mir lieber die Wahrheit! Was war das mit dem Duell? Warum hast du nicht Abschied von Vater genommen? Warum musste er sterben? Warum sind wir nach seinem Tod in Armut gestürzt? Was hast du mit Vaters Tod zu tun?

      Sie tat es nicht. Sie würde es nie tun. Sie war eine Zietowitz, sie wusste, was sich gehörte und was nicht. Sie würde schweigen — und wenn sie daran erstickte.

      Doch wie sollte sie weiterleben, mit der Mutter zusammenleben mit diesen Gedanken? Schwer genug war es, seit dem Abschluss der Höheren Töchterschule bis auf hin und wieder ein paar Stunden bei Cecilie die ganze Zeit mit der Mutter zu verbringen, jeden Augenblick unter deren Aufsicht zu stehen, von ihr pausenlos beobachtet, korrigiert, getadelt und angewiesen zu werden, sich deren Diktat von gutem Ton und erstrebenswerter Bildung unterordnen zu müssen. Schwer genug. Doch nun, wo die Fragen um den Tod des Vaters und der entsetzliche Verdacht hinzugekommen waren, erschien es Sophie völlig unerträglich.

      Nebenan in der Küche rumorte es. Selbst Frieda konnte nicht schlafen, weil die Mutter sie alle mit ihrem Husten weckte. Frieda, das altgediente Dienstmädchen, das die Antworten wusste, aber nicht preisgab, weil die Mutter es verboten hatte.

      Da war es wieder, das Kind, verängstigt in seinem Bett. Draußen im Flur schrie die Mutter. Und dann war Frieda da, Frieda mit ihren rauen Händen und weichen Brüsten, Frieda, die sie an sich drückte und sie wiegte und flüsterte: Ist ja gut, Sophie, ist ja gut. Ach Gott, Kindchen, armes Wurm! Hast keinen Vater mehr, weil der jetzt im Himmel ist, beim lieben Gott. Aber Frieda lässt dich nicht allein, die ist immer für dich da, das schwör ich dir.

      Sophie lag ganz still. Diese Erinnerung, sie musste doch noch weitergehen. Hatte Frieda noch etwas gesagt, damals, am Morgen des 6. März?

      Aber da war nichts mehr, nur das.

      Die Mutter hustete. Sophie