Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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über die Bücher wachte, die sie las. Eines der Worte, die sich auf den geheimen Teil des Lebens bezogen, auf den, vor dem höhere Töchter streng abgeschirmt wurden. Sophie spürte sie immer wieder, diese unsichtbare Mauer des Schweigens, die alles umgab, was sich auf Mann und Frau und Kinderkriegen bezog. Wenn Cecilies Mutter ihr mit höchstem Stolz jeden Raum ihres neuen Hauses gezeigt hatte, selbst die Dienstbotenkammer, nur einen nicht, das eheliche Schlafzimmer. Wenn ihr Bruder Karl bei seinem letzten Urlaub von der Hochzeit eines seiner vorgesetzten Offiziere gesprochen und erzählt hatte, dass man das jungvermählte Paar zur Hochzeitsreise an den Bahnhof gebracht habe, und dabei mit einem so merkwürdigen Grinsen das Coupé apart erwähnt hatte, das die beiden bestiegen hätten, einem Grinsen, das ihm unter dem empörten Stirnrunzeln der Mutter und einem kurzen Blick auf sie, die ahnungslose Schwester, vergangen war. Wenn Mama plötzlich in scharfem Ton Frieda ins Wort fiel, weil diese unbefangen etwas ausplauderte, was sie beim Einholen auf dem Markt oder beim Gespräch mit anderen Dienstmädchen aufgeschnappt hatte, von einer Frau, die im Kindbett gestorben, oder einem Dienstmädchen, das wegen „anderer Umstände“ aus dem Haus gejagt worden war. Wenn im Religions- und Konfirmandenunterricht dunkle Worte vorgekommen waren — das sechste Gebot: Du sollst nicht ehebrechen — und man hätte fragen mögen, was genau das denn nun sei, Ehebruch, ob es da um das Gefühl, jemanden anderen zu lieben, gehe oder doch um etwas anderes, und keine sich getraut hatte, danach zu fragen.

      Liebhaber ...

      „Und jetzt hat Pierre diesen Dolochow zum Duell gefordert, und da stehen sie sich nun auf einer Lichtung im Wald gegenüber“, erklärte Cecilie, rückte näher ans Licht und begann zu lesen:

      „‘Na los‘, rief Dolochow.

      ‚Auf was warten wir noch?', sagte Pierre, immer noch mit demselben Lächeln.

      Allen war fürchterlich zumute ...“

      Auf einmal war Cecilies Stimme weit weg. Wie durch Nebel drangen die Worte nur noch dumpf in Sophies Ohren, erreichten nicht mehr ihr Bewusstsein. Die Stickerei sank in den Schoß. Sophie saß starr. Und alles war wieder da. Die Nacht. Das Mondlicht. Die Schritte des Vaters im Nebenzimmer. Das leise Zuziehen der Wohnungstür. Und dann der Schrei der Mutter —

      „Er machte ein paar unsichere, schwankende Schritte auf den Säbel zu und sank neben ihm in den Schnee“, las Cecilie vor. „Seine linke Hand war voller Blut, er wischte sie an seinem Rock ab und stützte sich darauf ...“

      Ob damals auch Schnee gelegen hatte, damals, am 6. März 1875, damals, als der Vater in einem Duell getötet worden war, um seine Ehre zu retten?

      „Sie waren nur noch zehn Schritte voneinander entfernt. Dolochow ließ den Kopf in den Schnee sinken, nahm lechzend etwas davon in den Mund ...“

      Blut im Schnee. Oder hatte es geregnet, und das Blut des Vaters hatte sich mit dem schmutzigen Wasser einer Pfütze vermischt? Nein, nein, die Sonne, erst hatte der Mond geschienen und dann die Sonne —

      Ein klagender Laut entwich Sophies Brust, ohne dass sie es wollte.

      Cecilie blickte vom Buch auf. „Was ist? Aber Sophie — du weinst ja!“

      Sophie schüttelte den Kopf. Und schluchzte immer heftiger. Die Freundin setzte sich neben sie auf das Sofa und legte den Arm um sie. „Du weinst ja!“, wiederholte sie. Da stürzten alle Schutzwälle ein, und die Worte brachen aus Sophie heraus: „Mein Vater, er ist bei einem Duell getötet worden. Ich weiß es noch nicht lange, meine Mutter spricht nie darüber, ich habe ein paar Zeitungsausschnitte gesehen, nur eine Überschrift konnte ich lesen, und Frau General von Klaasen, sie hat nicht widersprochen, als ich von dem Duell gesprochen habe, und nun ...“

      „Das tut mir leid“, flüsterte Cecilie. „So leid. Wenn ich das gewusst hätte, ich hätte dir das hier doch nicht vorgelesen!“

      Sophie lehnte sich an die Freundin, drückte ihren Kopf an deren Schulter. Nun, da sie einmal angefangen hatte zu reden, ließen sich die Worte nicht mehr aufhalten: „Und nun muss ich wissen, was es war, warum dieses Duell, ich muss es einfach wissen, wofür er gestorben ist, verstehst du?“

      Cecilie nickte. „Meistens geht es um eine Frau“, erklärte sie.

      Sophie rückte von ihr ab und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Eine Frau?“, fragte sie. „Wie meinst du das?“

      „Na ja, so ähnlich wie hier in dem Roman eben. Einer sagt etwas über die Gattin eines anderen, etwas gegen die Ehre, und der erfährt davon, und dann muss er den anderen fordern. Oder er kommt dahinter, dass seine Frau mit einem anderen eine Beziehung ...“ Cecilie wurde rot und griff nach den Zeitungen, die auf dem Tisch verstreut lagen. „Ich habe erst gestern so einen Artikel gelesen, hier ist er: ‚Wie wir aus gutunterrichteten Kreisen erfahren, hat gestern Morgen in der Hasenheide bei Berlin ein Duell zwischen Baron von I. und Hauptmann von Walstetten stattgefunden. Der Hauptmann fiel. Erinnert sei in diesem Zusammenhang, dass das Strafgesetz den Zweikampf unter Strafandrohung stellt und insbesondere die katholische Kirche ihn verbietet. In ähnlich gelagerten Fällen hatten Duellanten gewöhnlich auf Beschluss Seiner Majestät des Kaisers eine sechswöchige Festungshaft zu verbüßen. Aus Kreisen des Militärs und des Adels war jedoch Zustimmung zu dem Duell zu hören. Es musste sein, verlautete es einhellig. Es heißt, dass eine Beziehung zwischen dem Hauptmann und der jungen Baronin bestanden haben soll, die zweifelsfrei durch Briefe belegt sei. Sogar eine gemeinsame Flucht sei in Betracht gezogen worden.‘

      „Eine Beziehung?“, flüsterte Sophie und starrte Cecilie an. „Du meinst, dass meine Mutter, meine Mutter, dass sie meinen Vater verlassen, mit einem anderen fliehen ...“

      Cecilie machte ein betretenes Gesicht. „Das habe ich nicht gesagt! Ich habe nur gesagt, oft geht es um eine Frau. Nach dem eben, was in den Zeitungen und Büchern steht. Aber du musst das doch viel besser wissen als ich, es sind ja deine Kreise, in denen man sich duelliert, und nicht meine. Außerdem kann es auch etwas ganz anderes ...“ Ihre Stimme versickerte.

      „Meine Mutter“, wiederholte Sophie tonlos. „Dann hat sie ja Schuld am Tod meines Vaters!“

      Noch nie hatte das Stakkato so hart geklungen, das Fortissimo so laut, waren die Läufe so wild den Akkorden entgegengestürmt, den Akkorden, die in ihrer Dissonanz ein einziger Schrei waren, eine zornige Anklage. Sophie hämmerte auf das Klavier. Wo sonst sollte sie ihre Gefühle lassen, wo sonst konnte sie ihnen Ausdruck geben als in der Musik? Und nebenan, so dass Sophie sie durch die geöffnete Tür sehen könnte, wenn sie den Kopf wenden würde, saß die Mutter und hörte ihr Klavierspiel und wusste nicht, dass diese wütende Beschuldigung ihr galt.

      Wie sich auf einmal alles zusammenfügte: das Schweigen der Mutter über den Tod des Vaters, das Schweigen, das auch Frieda mit hineinzog und Frau von Klaasen und überhaupt jeden, von dem Sophie etwas über ihren Vater hätte erfahren können. Das mehr als unterkühlte Verhältnis zwischen der Mutter und Onkel Albrecht, Oberst von Zietowitz, der sich nicht öfter als zwei, drei Mal im Jahr bei ihnen blicken ließ, obwohl er doch auch in Berlin wohnte, und der zwar für die Ausbildung ihres Bruders Karl an der Kadettenschule aufgekommen war, der Mutter aber noch nicht einmal einen Blumenstrauß zum Geburtstag schickte. Die plötzliche Armut, in der sie seit dem Tod des Vaters lebten, der Umzug aus der großen Wohnung in der Beletage hierher in die kleine, der Verkauf der meisten Möbel, Einrichtungsgegenstände und Wertsachen — wahrscheinlich hatte der Vater ein Testament gemacht, in dem er seiner Frau nichts hinterließ, da sie ihn so schändlich hintergangen und in den Tod getrieben hatte ...

      Hatte der Vater auch Briefe gefunden, in denen stand, dass seine Frau ihn mit einem anderen verlassen wollte? Und nun war der Vater tot.

      Das Presto endete mit Zorn. Ich hasse dich, Mutter, ich hasse dich! Wenn Frauen einander zum Duell fordern könnten, ich würde dich fordern. Mit Pistolen im Morgengrauen. Damit