Helmut H. Schulz

Die blaue Barriere


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uns hat er keine Chance."

      Das stimmte schon, war aber falsch adressiert. Schließlich saß Clem am Jagdsitz auf der Brücke vor seiner Fischlupe, dem LUPO, und entschied über das Dasein der Fische. Und er war immer ziemlich bei der Sache. Wir messen den Fisch mit Echolot ein, zeichnen seine Wege vertikal und horizontal auf, und es gibt noch ein paar andere Schikanen, über die man ungern redet. Hochseefischen ist heute ein kompliziertes Zusammenspiel von Fängern, Zubringern, Verarbeitern. In den Fanggründen gehen die Trawler, die kleinen grauen Hunde, auf Jagd. Die Z-Trawler sind größer, so an die zweiundsechzig Meter lang und reichlich zehn Meter breit, viel Schiff für einen Fischer, und wir machen, wenn wir Glück haben, gute vierzehn Knoten. Wir fischen im Verband mit Heckaufschleppen wie die Walfänger, während die kleinen Trawler oder auch Kutter - das Trawl ist im Grunde nichts anderes als unsere alte Kurre - Netz über Steuerbord aufholen. Wir können so an die hundert Tonnen Fisch zwischenlagern, bis zur Übergabe. So geht Hochseefischerei im Nordatlantik heutzutage vor sich, mit mächtig hohen Erträgen, nicht gut für den Fisch.

      "EM meint aber", sagte ich bei unserem verflucht kleinen und zähen Eisbein, "Fang und biologische Reproduktion halten sich die Waage." Das war Clems Generalkurs, wie ich wusste.

      "Biologische Reproduktion", sagte Clem höhnend, "wenn ich das schon höre. Die Leute fressen zuviel Fisch. Wir sind Räuber, wir plündern die Meere, nach uns die Sintflut, und nun muss diese Wissenschaft, dieser Klugschieter Mangelsdorf, ran und unser schlechtes Gewissen beruhigen."

      Er tat ziemlich aufgeregt. Ich habe keine eigene Theorie. Wäre die angebliche Balance noch vorhanden, müssten wir nicht um die halbe Welt fahren für ein paar Tonnen Fisch, sondern würden mit den alten Methoden in uns nahen Gewässern gemütlich weiter fischen können. Was ist da los? Wer kann, baut größere, schnellere, technisiertere Schiffe und jagt, zwar nach Verträgen und Abkommen, aber gefangen wird immer mehr.

      "Na, bitte", sagte Clem, "von wegen EM!"

      Jedenfalls hat sich der Kabeljau zum Laichen ausgerechnet in die Labradorsee zurückgezogen, in den Eiskeller des Nordwestatlantik. Die Fangsaison liegt in den ersten Monaten des Jahres, und deshalb treffen sich die Fangflotten aller Nationen vor der Davisstraße, dem Tor zur Nordwestpassage.

      "Übrigens wird der Fischereikrieg auch nicht bloß mit Statistiken geführt", sagte Clem weiter, während er mit einem Zahnstocher sein Wolfsgebiss säuberte.

      Damit war das Thema erledigt, und wir erörterten das Fischproblem von einer besseren Seite. Clemens lobte Heilbutt, auch Seezunge ließ er gelten.

      Ich sagte, ich zöge frisch gefangenen Kabeljau allem anderen vor. Das Fleisch habe einen herben, dann auch wieder zarten Geschmack, schneeweiß und fest, es dufte wie Brunnenkresse, aber der Fisch müsse gerade aus dem Wasser kommen, reif und gesund sein. Kein toter Fisch. So was hat man bei Richard auf seinem ollen Logger lernen können, Fischzubereiten nämlich, Braten und Kochen.

      "Blödsinn", sagte Clem, "wieso Brunnenkresse? Wie kommst du darauf? Wie riecht denn Brunnenkresse?"

      Ich wusste es nicht und sagte mürrisch: "Eben wie Brunnenkresse."

      "Das ist doch keine Erklärung", sagte Clemens Gib.

      "Dann beschreib mir mal, wie Dieselöl riecht!" Clem legte die Hand unter den Bart, schabte sich den Hals und sagte nachdenklich: "Du hast recht, trotzdem ist es keine Erklärung."

      Ich wollte ja auch nichts erklären.

      Wir bestellten Kaffee, und Clem sagte, er werde sich um alles kümmern; für jetzt genüge ihm meine mündliche Zusage.

      Ich musste mal raus, traf unterwegs einen Bekannten und redete ein paar Minuten mit ihm, bevor ich wieder ins Restaurant ging.

      "Trink deinen Kaffee", sagte Clem, "der steht schon eine Ewigkeit hier."

      Ich steckte mir eine Zigarette an und trank den inzwischen kalt gewordenen Kaffee.

      3

      Kalter Kaffee erinnerte mich an die Zeit vor etwas weniger als einem Jahr im Seemannshaus, Haus Sonnenschein. Dort wohnte ich in einem Zweibettzimmer, zusammen mit Ewald, einem netten Jungen aus Malchow, dessen Braut nun wieder in Johanngeorgenstadt lebte. Er zeigte mir das Nest auf der Karte, es liegt im Bergland, tief im Süden, von uns aus gesehen.

      Ein Seemannshaus ist immer eine Mischung aus Hotel und Besserungsanstalt, ganz egal, was drüber steht, Haus der Gewerkschaft, Klub der Solidarität, Boarding-House oder bloß Seemannsheim. Die einen wollen ihre Ruhe, die anderen einen Puff. Ruhe ist in einem Seemannshaus aber ein rarer Artikel, es herrscht ein ewiges Kommen und Gehen. Ich habe es erlebt, dass mein zweites Bett innerhalb einer Nacht zweimal neu belegt wurde. Jeder, der kam, öffnete eine Flasche Schnaps, wollte auf mein Wohl und Brüderschaft trinken.

      Manchmal aber treffen sich hier auch Leute, die einander Jahre lang nicht gesehen haben, Freundschaften werden erneuert, Feindschaften auch. Es gibt aber wiederum Tage, an denen solch ein Laden wie ausgestorben erscheint. Getrunken wird immer, und zwar zuviel, und natürlich mangelt es an Frauen.

      Mir fehlte bloß ein starker Kaffee. Ewald versprach, ihn zu kochen, und stöpselte das Kabel des Tauchsieders in die Steckdose. Die Hausordnung besagte, dass auf den Zimmern keine elektrischen Geräte in Betrieb gesetzt werden dürften, anders werde man hinausgeworfen. Die Folge war, dass in jedem Zimmer Wasserdampf für Kaffee, Tee oder Grog wie Seenebel stand.

      Ich lag halb ausgezogen auf dem Bett und rauchte eine Gitanes. Ewald hatte mir eine Schachtel geschenkt, er selber vertrug den starken Tabak schlecht.

      "Weshalb hast du diese Zigaretten gekauft, wenn du sie nicht rauchen kannst?", fragte ich.

      "Der Chandler hat sie mir angedreht", sagte Ewald, "angeblich werden sie von Seeleuten geraucht."

      Er hatte einen runden Schädel, harmlose blaue Augen und einen dünnen Ziegenbart, den er hegte und pflegte. Überall war der Körper dieses jungen Riesen mit weichem blondem Haar bewachsen, ein Küken im Flaum. Ewald bearbeitete täglich zwei Stunden lang einen Expander, um seine Muskeln zu stärken. Die Federn des Gerätes hingen nach kurzer Zeit schlaff und ausgeleiert an ihren Griffen. Ewald musste sie häufig erneuern. Auf meine anerkennende Bemerkung über seine Körperkräfte antwortete Ewald bescheiden, er müsse viel mehr trainieren, wenn einmal etwas aus ihm werden solle. Bei diesem und anderem Gerede wurde der Kaffee kalt. Ich schluckte ihn, denn Ewalds Erzählungen fesselten mich sehr. Er fuhr als Maschinenassistent auf einem Frachter, war also ein armes Schwein.

      Ewald besaß einen Schuhkarton mit Fotos von seiner Braut, Porträts, mit Perücke, ohne Perücke, Brustbilder, Ganzbilder, die Braut im Badeanzug. Sie hatte eine nette Figur, nur schien sie mir etwas zu winzig für den Riesen Ewald. Aber Fotos täuschen ja leicht über die richtigen Größenverhältnisse. Bei Gruppenaufnahmen - Ewalds Braut führte anscheinend ein geselliges Leben - standen auf den Rückseiten die Daten und die Namen der jungen Männer. Das alles regte Ewald natürlich mächtig auf. Mir sagen Fotos nichts, vielleicht weil sie einem zu oft gezeigt werden, aber Ewalds Sammlung fand doch mein Interesse. Fährt man lange mit denselben Leuten, kennt man zuletzt deren Familien wie seine eigene.

      "Glaubst du, dass sie mit all den Jungens was hat?", fragte Ewald melancholisch.

      "Ach woher", sagte ich, um ihn abzulenken, "denk lieber an was anderes."

      Das könne er nicht, sagte Ewald, er müsse eben dauernd daran denken.

      "Und wenn du dir hier was suchst, für den Übergang?", schlug ich vor. Auf dem Bett liegend, kam ich mir ziemlich weise vor mit meinen vierzig Jahren und der Erfahrung, dass man nehmen soll, was man kriegen kann, ohne sich einzubilden, ein anderer müsse erfolgloser sein als man selber. Flüchtig dachte ich wohl auch an Imke, ohne den Wunsch, sie wiederzusehen. Nicht mal ihr Bild konnte ich mir herstellen, strengte meine Fantasie aber auch nicht sehr an.

      "Alle Frauen sind irgendwie gleich", sagte ich.

      Zum Dank für diese Lebenshilfe nannte mich Ewald einen Swinegel.

      "Es geht mir doch nicht darum", sagte