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Helmut H. Schulz
Götterdämmerung
Erzählung
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Inhaltsverzeichnis
Einführung
"Buri", sagte meine Großmutter, "heißt: der Geborene und Alwis der Allwissende; dazwischen liegt die Erfahrung unseres Lebens."
Denke ich an die Zeit meiner Kindheit zurück, so entsteht ein Panorama des Wohlstands und der Geborgenheit vor meinen Augen ein prächtiges, geräumiges Haus, Viehställe. Die rußige Werkstatt mit dem heiligen Feuer der Arbeit, ein Garten, hinter dem das Gelände sanft abfällt, unsere Äcker und Wiesen mit weidenden Rindern und Rossen, am Horizont ein Streifen Wald und der Strand mit dem ewig brausenden Meer.
Meine Großmutter nannte, was wir besaßen, Thrudwang, das Reich des mächtigen Thor; es beherbergte viele Menschen, und meine Großmutter gab ihnen Namen aus der nordischen Mythologie, der Götterwelt der Asen. Ihr Mann, mein Großvater, hieß manchmal scherzhaft, öfter mit feierlichem Ernst Asa-Thor, ihr Halbbruder hieß Loki und ihre Tochter Gertrud, meine Mutter hieß Freyja und ihr Halsband Brinsingarnen. Sie selbst ließ sich Sif nennen, die Goldhaarige, obschon ihr Haar damals eher weiß war. Mein Vater, zu dem sie eine besondere, mir nicht ganz verständliche Beziehung hatte, gehörte eigentlich nicht zur Familie Thor. Sie fand für ihn den Namen Gangleri und pflegte lange Gespräche mit ihm unter vier Augen zu führen, über die sie mit keinem sprach. Mein Vater war auch nicht mitteilsam. Ich hingegen zählte ihrer Auffassung nach ganz zu den Thors, und ich fühlte mich auch ihnen zugehörig. Das alles ereignete sich in der Mitte der dreißiger Jahre und dauerte bis zum Zusammenbruch unserer Welt und dem Verlust all dessen, was wir besessen hatten; es geschah weitab von den Zentren Europas hoch im Nordosten des Reiches. Meine Angehörigen verwandelten sich in dieser Zeit, und vielleicht verwandelte auch ich mich.
Als erstgeborener Knabe stand ich in der besonderen Gunst meiner Großmutter, sie zog mich bei allen Gelegenheiten hinzu, von denen sie glaubte, diese könnten mir für mein Leben nützlich sein; nützlich nicht im Sinne meines Fortkommens in der Welt, sondern im Sinne einer Bereicherung meiner Seele.
So saß ich denn oft am Teetisch ihrer alten Freundin, der Reederstochter Hedwig W., die einem berühmten alten Kaufmannsgeschlecht angehörte, eines von jener Art, das dem deutschen Kaiser die Entgegennahme eines Adelsbriefes mit der Begründung abschlug, älter und vornehmer zu sein als die Burggrafen von Nürnberg und mit einem Freiherrentitel nichts zu gewinnen.
Sie war unverheiratet, wohlhabend und lebte nach englischer Art in ihrem Haus in Wustrow, nahe dem Strand in der Kapitänszeile. Seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als sie eine Anzahl junger Mädchen und Frauen um sich versammelt hatte, um sie in deutschem Brauchtum zu erziehen, kannten sich meine Großmutter und die Hedwig W.; so harmlos, wie es sonst in den Fischländer Spinnstuben zugegangen sein mag, war es nicht, was die Frauen taten. Der Zirkel hieß Nordischer Kreis, und die Reederstochter machte ihre Novizinnen mit den Sagen und Liedern der Deutschen bekannt. Aber sie vermittelte auch die Vorstellung von einer besonderen Stellung der germanischen Rasse in der Welt und wurde nicht müde, dieses Bewusstsein zu wecken oder, wo es schon vorhanden war, zu stärken.
Ich will versuchen, das Leben dieser mir nahestehenden Menschen aus meiner Erinnerung aufleben zu lassen, denn es geht ein scharfer Schnitt durch die Zeit von damals und dem Heute. Waren die Horizonte unseres Lebens damals noch nicht verstellt mit Schornsteinen und dem kalten Streben nach Herrschaft über die Erde, den wir Fortschritt nennen? Befanden wir uns im Gleichmaß mit der Natur und der Geschichte, oder taucht meine alternde Seele alles in das Licht der Verklärung?
Die Figuren jener Tage erscheinen mir wie Scherenschnitte auf goldenem Grund, ihre Schatten sind dahingegangen, ohne Spuren zu hinterlassen. "Alles stirbt, eines weiß ich, das ewig lebt, das Urteil über die Toten", sagt der uralte Spruch aus der Edda.
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