Adriana Wolkenbruch

Deutscher Riese


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      Adriana Wolkenbruch

      Deutscher Riese

      Kurzgeschichten aus Westfalen

      Dieses ebook wurde erstellt bei

      

      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Kapitel 7

       Kapitel 8

       Kapitel 9

       Kapitel 10

       Kapitel 11

       Kapitel 12

       Kapitel 13

       Kapitel 14

       Kapitel 15

       Kapitel 16

       Impressum neobooks

      Kapitel 1

      Jeder von uns fängt an. Immer wieder. Das ist das Schwerste und das Leichteste der Welt.

      Kapitel 2

      ZEIT

      Ich habe nicht sehr viele Erinnerungen an meine Mutter. Aber die Erinnerungen, die ich habe bestehen aus einzelnen Bildern. Und jedes Bild verströmt einen fernen Zauber, der an keine Zeit gebunden ist. Ihre riesigen rissigen Hände, die einen großen Apfel mit einem Ruck in zwei Hälften zerreißen und mir die schönere Hälfte geben. Mein Vater trägt mich auf dem Arm und wir gehen auf meine Mutter zu, die in einer großen dunkelgrünen Latzhose steckt und mit einer Motorsäge einen Baum fällt. Meine Mutter, die mir immer etwas über die Besonderheiten der Tiere erzählt, denen wir auf unseren Spaziergängen begegnen; die Milchkühe, die wiederkauen, die Nacktschnecken, die ihr Haus auf dem Rücken tragen, die Wildtiere, die auf die Menschen verzichten wollen. Ich sitze bei meinem Vater in seinem sauberen Auto und sehe meine Mutter in einem schmutzigen Nachthemd am Straßenrand stehen, ihre zotteligen braunen Haare wehen wild im Wind, wo will sie hin, diese Fee scheint in einen Kampf zu ziehen? Auf einem Bild, das in der Küche hing und immer noch hängt, sitzt auf einem zotteligen Pony, hinter ihr Berge und Felsen und ein Wasserfall und ihr Gesicht ist der Ausdruck reinen Glücks. Später, viel später, ich bin längst erwachsen, erzählt mir Berthold, mein Vater, mehr über sie. Sie war im Klinikum angestellt, um die Grünflächen zu pflegen. Sie hatte eine psychische Behinderung, man hatte Schizophrenie bei ihr diagnostiziert. Mein Vater sagte, das Leben hätte ihr ohne ihre Fantasie nicht ausgereicht. Ich erinnere mich jetzt, dass ich gesehen hatte, wie sie ihre Tabletten nahm. Und wenn mein Vater mit mir nach Hause kam, nachdem er mich vom Kindergarten, von der Schule abgeholt hatte, lag sie immer in eine Decke gehüllt auf dem Sofa. Sie bemühte sich, dann schnell aufzustehen und eine gute Hausfrau zu sein. So würde ich es heute ausdrücken. Sie war mir immer großartiger, besonderer, bewundernswerter als mein Vater vorgekommen, mit ihren tiefgründigen, manchmal verwegenen eisblauen Augen. „Sie hätte es verdient, etwas Großartiges zustande zu bringen“, sage ich zu Berthold, meinem Vater. Er lächelt, und jetzt kann ich auch an ihm etwas Besonderes sehen, unglaublich warme, tiefgründige Augen, ein kühnes Grübchen neben seinem Mund, der lächelt, der fast so ebenmäßig wie der einer Frau ist. Wie meiner. Mein Vater ist für mich jetzt ein Held, wie ihn sich kleine Kinder wünschen. „Sie hat Dich“, sagt er und nimmt meine Hand in seine glatten Beamtenhände, „zur Welt gebracht.“

      Kapitel 3

      Weiß und Grau und Blau

      Sie spürte ein Kitzeln und zuckte zusammen. Die Schnurrbarthaare des kleinen Hundes streiften über ihre Wangen und ihren Hals. Mit einer einzigen ruckhaften Bewegung warf sie sich herum. Der Hund, der sich kurz zuvor noch auf- beziehungsweise über ihr befunden hatte- die kleinen Pfoten fest auf ihre Schultern gedrückt-, purzelte nun neben sie, hinter sie. Während sie auf der Seite lag und die ersten Gedanken dieses Tages sich grimmig in ihrem Kopf sammelten, rappelte der kleine Hund sich auf und rollte sich an ihren Kniekehlen zu einer kleinen Kugel ein. Er seufzte auffällig laut und ließ seine kleinen, pelzigen Augenlider langsam sinken. Sie musste schmunzeln über ihn und die grimmigen Gedanken verschwammen kurz. Dann verdeutlichten sie sich wieder. Sie würde nicht mehr einschlafen, was bedeutete, dass der Tag länger sein würde. Sie seufzte. Kurz darauf berührte etwas nasses ihre Wange. Der Hund war hinter ihr zaghaft mit dem Schwanz wedelnd aufgestanden und als sie den Kopf in seine Richtung drehte, sahen sie seine Knopfaugen durchdringend an. „Jaja“, murmelte sie und beschloss aufzustehen. Schließlich warteten die Grauen, die Tauben. Seit dem Tod des alten Mannes lebten sie ganz allein in dem alten Haus. Sie waren es gewohnt, tagsüber draußen zu sein und abends, wenn sie wieder drinnen waren, musste man das Haus abschließen. Sie schlurfte in die Küche und setzte Kaffee auf, nahm sich einen Apfel und legte dem Hund sein Geschirr an. Damit man nicht sehen konnte, wie zerzaust ihr Haar war, setzte sie sich die Wollmütze auf. Als sie, den ersten Bissen des Apfels kauend, vor die Haustür trat, bemerkte sie mit betretener Miene, dass heute Altpapier abgeholt wurde. Oder worden war. Um wenigstens den Anschein zu wahren, sie hätte es nicht vergessen, zerrte sie ihre halbvolle Tonne in Richtung Straße. Der kleine Hund kläffte.

      Die Tauben saßen bereits gurrend vor den Fenstern, als sie das Haus erreichte. Der kleine Hund regte sich fürchterlich über einen größeren Hund auf, der ihn seinerseits ignorierte. Das Ende der Leine quetschte ihre Hand und sie spürte, wie viel Kraft der kleine Hund hatte. Sie warf den abgenagten Rest des Apfels in hohem Bogen in das Gebüsch. Der Besitzer des großen Hundes schüttelte den Kopf und sie fühlte sich sofort sehr schlecht. War sie das, was sie dachte, was alle von ihr dachten? Und nicht nur das .Noch dazu arbeitslos und vielleichtwürde das Amt sie bald zwingen einen ganz schlimmen Job anzunehmen. Der sie in die Knie zwingen würde. Sie hatte doch wirklich genug zu tun: der