Schlundt gewohnt ist. Thomas weiß, seine Mutter mag Frau Schlundt nicht sonderlich; trotzdem ist seine Mutter immer freundlich zu dieser hageren, langen Bohnenstange, wie auch sie die Frau Schlundt nennt. Wenn in der Nachbarschaft von Frau Schlundt die Rede ist, heißt Frau Schlundt nicht Frau Schlundt, sondern die lange, dürre Bohnenstange. Nun steht die lange, dürre Bohnenstange in der Tür, und Thomas ist gespannt und neugierig zugleich, wie sich seine Mutter in dieser Situation verhalten wird. Thomas hat sich nicht getäuscht. Seine Mutter ist dem unvermittelten Eindringen der Frau Schlundt in ihre vier Wände gewachsen. Sie rückt den ihr am nächsten stehenden Stuhl in die Nähe des Herdes. Frau Schlundt deutet die Höflichkeit richtig und nimmt Platz, wobei sie darauf achtet, dass ihr Blumenkleid ihre langen dünnen Beine bedeckt. Dann holt Frau Schlundt tief Luft. Doch bevor sie zu sprechen beginnt, zeigt ihr langer dünner Zeigefinger ihrer rechten Hand auf Thomas. Die Mutter winkt ab. Frau Schlundt erspäht den vollen Teller und weiß Bescheid. Auch Thomas weiß Bescheid. Er weiß, wie er sich zu verhalten hat, wenn Gäste im Raum sind. Manierlich greift er zu Messer und Gabel. Das Wort manierlich ist eine Wortschöpfung seiner Mutter. Frau Schlundt beginnt zu reden. Sie redet wie ein Wasserfall. „Stellen Sie sich vor, Frau Boronsky, er hat seine Familie ausfindig gemacht ...“
„Wer hat seine Familie ausfindig gemacht?“
„Na, mein Untermieter! Der Erich!“
Nun wissen Frau Boronsky und Thomas Bescheid, von wem die Rede ist.
„Stellen Sie sich vor, Frau Boronsky, er hat seine Familie wiedergefunden. Sie haben sich getroffen, seine Frau, deren Freund oder Partner oder Mann – wer weiß auch immer, wer er ist - und haben sich ausgesprochen. Stellen Sie sich vor, liebe Frau Boronsky, sie haben sich ausgesprochen.“
„Ist doch schön,“ hört Thomas seine Mutter sagen, „zumindest besser, als wenn sie sich streiten würden.“
„Aber verstehen Sie nicht - oder wollen Sie nicht verstehen, liebe Frau Boronsky. Überlegen Sie doch einmal, was ich alles für diesen Kerl getan habe. Die Anzüge meines Mannes, die Hemden, die Krawatten, einfach alles habe ich diesem undankbaren Kerl gegeben. Und nun trifft er sich mit ihr. Hinter meinem Rücken! Und dafür habe ich alles für ihn getan; alles für ihn aufgeopfert. Und das ist nun der Dank!“
„Aber beruhigen Sie sich doch ...“ Thomas spürt, seine Mutter ist um eine Anrede verlegen.
„Stellen Sie sich doch einmal vor, liebe Frau Boronsky, erst gestern Nacht habe ich auf seiner Bettkante gesessen, habe auf ein freundliches Wort gehofft, gewartet ...“
Thomas entgeht nicht, wie Frau Schlundt ihn mit schmalen Augen prüft. Schnell beginnt Thomas zu schmatzen. Auch seine Mutter hat den Blick von Frau Schlundt bemerkt.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll, Frau Schlundt, aber der Bengel will partout nicht manierlich essen. Dabei gebe ich mir so große Mühe.“
Frau Schlundt ist zufrieden, setzt ihre Erzählung fort, während die Ohren von Thomas die Funktion einer Antenne übernehmen.
„Stellen Sie sich vor, liebe Frau Boronsky, da sitze ich auf seiner Bettkante, habe nur das dünne, durchsichtige Nachtkleid an, das gute, noch echte Friedensware, damals im bekanntesten Modegeschäft Berlins gekauft; da sitze ich nun in meinem Schick und friere und friere, denn er hat ja keinen Ofen in seinem Zimmer, - er würde ja sowieso nicht heizen, knickrig, wie er ist. Da sitze ich, und die Kälte kriecht an meinem Körper empor, ich spüre ihren eisigen Atem, obwohl in meinem Inneren die Hitze lodert, brodelt. Ich warte und warte ... Ganz geduldig harre ich aus und warte und warte und warte auf ein freundliches Wort von ihm, auf eine Geste, aber nichts passiert. Er ist stumm wie ein Stockfisch. Die Kälte lässt mich erstarren. Ich will zu ihm ins Bett kriechen, aber er bietet mir keine Gelegenheit dazu. Dicht neben der Außenkante liegt er. Keinen Raum lässt er frei für mich. Und dabei bin ich doch so schlank. Ich nenne ihn zärtlich bei seinem Namen. Keine Reaktion! Wie ein Toter liegt er in seinem Bett. Ich bin gerade dabei das letzte Stückchen Anstand zu verlieren, da dreht er sich unvermittelt um und zeigt mir seine kalte Schulter. Ich habe verstanden. Nun begreife ich! Seine Frau oder besser seine ehemalige Frau setzt ihn unter Druck. Der arme Mann weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Alle stellen nur Forderungen. Glücklich bin ich, dass ich das rechtzeitig erkannt habe.“
„Sie sind ein feinfühliger Mensch, Frau Schlundt.“ Thomas spürt genau, wenn seine Mutter ratlos ist.
„Ich hätte eine Bitte, liebe Frau Boronsky: Könnte mich ihr Thomas begleiten, wenn ich zu ihr gehe. Sicherer würde ich mich in der Gegenwart des Jungen fühlen. Bitte erlauben Sie ihm, mir auf meinem schweren Gang zur Seite zu stehen.“
Frau Boronsky ist die Hilflosigkeit anzusehen. „Wenn Sie meinen, dass es Ihnen hilft?“
„Ich würde auch mit ihm in ein Café gehen. Wir könnten Eis essen oder Kuchen.“
Thomas traut seinen Ohren nicht. Frau Schlundt will ihn zu Eis oder Kuchen einladen. Die Entscheidung wird ihm wirklich leicht gemacht.
„Ich werde mich auf den Besuch vorbereiten. In etwa einer Stunde würde ich den Jungen holen kommen, wenn es Ihnen recht ist, liebe Frau Boronsky.“
So unvermittelt wie sie auftauchte, ist die Frau Schlundt auch wieder verschwunden. Frau Boronsky bleibt keine Zeit für eine Antwort.
„Wenn du satt bist, mein Junge“, sagt Frau Boronsky,“wäschst du dich gründlich von oben bis unten. Du wirst ein frisches weißes Hemd anziehen und die gute kurze Hose. Pass auf, dass die weißen Socken in den Sandalen nicht gleich schwarz aussehen. Pass überhaupt auf und betrage dich manierlich. Ich möchte keine Klagen von der Frau Schlundt hören. Und wenn dir etwas angeboten wird, dann führe dich manierlich auf. Schlinge nicht gleich alles hinunter, sondern iss und trink gesittet. Bring keine Schande über uns. Ich möchte nicht, dass es im Viertel heißt... Jetzt hast du genug gegessen.“
Mit Kernseife wäscht sich Thomas am Ausguss gründlich von oben bis unten. Er schrubbt sich, dass die Haut rot anläuft.
„Die Haut muss gut durchbluten“, sagt sein Vater immer, damit sie gesund und frisch bleibt.
Auch seine Mutter ist mit der Wäsche zufrieden. Abschließend kontrolliert sie seine Ohren. Als es auch bei ihnen nichts zu beanstanden gibt, darf Thomas die nach Frische duftende Wäsche überstreifen. Bevor er nochmals einer Prüfung unterzogen wird, muss er sich die Haare kämmen, exakt einen Scheitel ziehen. Er muss nicht lange auf Frau Schlundt warten. Frisch poliert wie ein reifer Herbstapfel, der jeden Augenblick vom Baum zu fallen droht, steht sie wieder unvermittelt in der Tür.
„Der Junge ist ja gar nicht wiederzuerkennen“, stellt Frau Schlundt vor Freude strahlend fest. Wenn sie guter Laune ist, zeigt sie ihre tadellosen schneeweißen Zähne.
„Die müssen ein Vermögen gekostet haben“, erinnert sich Thomas. Damals saßen sie am Abendbrottisch, und seine Eltern unterhielten sich über die Frau Schlundt. Da kam seine Mutter auch auf die Zähne dieser Frau zu sprechen. Sie sagte zu seinem Vater: „Solche Zähne könne sie sich nie leisten ...“
Dieser Satz bewirkte, dass sein Vater nicht nur verstimmt war, sondern richtig verärgert, fast wütend.
Alle im Viertel wussten, dass Vater Boronsky recht wenig verdiente. Das war auch der Grund, weshalb die Boronskys im Viertel zu den Armen zählten.
Der Leitsatz seines Vaters war: Wir müssen uns eben einschränken.
„Nur hat die Einschränkung auch ihre Grenzen“, widersprach die Mutter jedes Mal. „Irgendwo hat alles seine Grenzen“, fügte sie jedes Mal drohend hinzu.
Gemeinsam mit Frau Schlundt verlässt Thomas die elterliche Wohnung. Kaum haben sie das Viertel hinter sich zurückgelassen, ergreift Frau Schlundt die Hand des Jungen. Thomas hat das Gefühl, als hätte ein Raubvogel ihn erfasst. Frau Schlundt hat eine knöcherne Hand mit langen, dünnen Fingern, die Thomas an die Beine einer Spinne erinnern. Ihre Fingernägel sind spitz wie Indianerpfeile, dazu blutrot bemalt. Auch ihre Lippen glänzen auffallend rot, und lassen ihren Mund riesiger erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. Hinter dem Wohnviertel schließt sich ein kleines Wäldchen an. Thomas ist