die Bank hätte ihm das Geschäft empfohlen und müsse haften, würde nicht greifen.
Und ausgerechnet mit diesem völlig Zerrütteten sollte ich erneut zusammenarbeiten.
Das war der zweite Riesenfehler, den ich nach meiner Entlassung machte. Wie mit Maria holte ich mir ein Relikt aus meiner Vergangenheit und des kleinkarierten Bürgertums in mein Leben, das nicht mehr mit meiner Lust auf Freiheit und absoluter Unabhängigkeit in Einklang zu bringen war. Das Universum nimmt es dir übel, wenn du freiwillig eine Klasse wiederholst, die du schon mit Erfolg absolviert hast. Ich aber dachte in meiner Naivität, dass ich dieselben Fehler nicht zweimal machen würde und gegen verderbliche Einflüsse gefeit wäre.
Jamie war ein krankhafter Egomane, der nie einen Bezug zu seinem wahren Selbst gefunden hatte. Ein typischer Narzisst. Im Alltagsverständnis ist ein Narzisst ein Mensch, der sich sehr auf sich selbst bezieht und dabei andere vernachlässigt. Auf der spirituellen Ebene ist ein Narzisst ein Mensch, der den Kontakt zum Sein und zu sich selbst verloren hat. Dieser Mensch ist in seiner narzisstischen Persönlichkeitsstruktur wie in einem Gefängnis eingesperrt. Das Gefängnis wird jedoch oft erst offensichtlich, wenn die Sehnsucht nach dem „Sinn des Lebens“, nach dem „Wesentlichen“ und nach dem „Glück“ nicht verstummen will. Ein Narzisst wie Jamie besaß nur den Popanz eines Egos und hat nicht den Hauch einer Ahnung von seinem WAHREN SELBST. Vollkommen unfähig, sich in andere Menschen oder Situationen einzufühlen oder sie begreifen zu können, schätzte er pausenlos Situationen und Menschen falsch ein. So bildete er sich tatsächlich ein, er würde mir eine zweite Chance geben. Er begriff nicht, dass es umgekehrt war. Ihm stand das Wasser bis zum Hals, nicht mir. Er klammerte sich an mich als seinen letzten Strohhalm. Um mich zu ködern, behauptete er, mir zu vertrauen. Was für ein großes Wort aus seinem Munde. Er hatte keine Ahnung von Urvertrauen in die Existenz, das völlige Furchtlosigkeit voraussetzt.
Wie bei Myamoto Musashi, dem zu seiner Zeit unbesiegbaren Samurai, der dem japanischen Kaiser das Geheimnis seiner Schwertkunst offenbarte, indem er seinen neben ihm stehenden Schüler aufforderte, sofort Selbstmord zu begehen. Ohne eine Sekunde zu zögern, zog der Schüler sein Schwert, um es sich in den Leib zu rammen. In letzter Sekunde hielt Musashi seine Klinge dazwischen.
„Das Geheimnis meiner Schwertkunst ist, dass wir aus Stein sind. Wir kennen keine Angst. Nicht einmal vor dem Tod, so dass wir in jeder Sekunde bereit sind, zu sterben“, erklärte er lächelnd dem verblüfften Tenno.
Der angstbesetzte Jamie war meilenweit von diesem Zustand der Furchtlosigkeit entfernt. Vertrauen bedeutete für ihn bestenfalls eine kurzzeitige Verdrängung des Misstrauens. In Wirklichkeit war es nichts als dieses bedingte Vertrauen des typischen Feiglings. Ich vertraue dir, also verhalte dich gefälligst so, wie ich es von dir erwarte. Nichts von dem existenziellen Urvertrauen des Musashi und seines Schülers.
Der von Angst zerfressene Musikant erwartete Verlässlichkeit und an bürgerliche Moral angepasstes Verhalten. Ich aber hatte gerade gelernt, authentisch und wild zu sein. Wie Wasser, das sich jedem Gefäß anpasst, ohne seine Identität zu verlieren. Das bedeutete auch, das Recht zu haben, meine Meinungen und Ansichten ebenso ständig ändern zu können wie meine Wohnsitze und Beziehungen. Immer im Fluss und beweglich zu sein. Ein tanzender Gott, wie ihn sich Nietzsche vorstellt.
Jamie aber wollte erneut den erstarrten englischen Gentleman, den er in Erinnerung hatte. Der nie ausfällig wird und stets perfekt gekleidet kluge Sachen von sich gibt. Aber ich war nicht bereit, noch einmal in dieses Kostüm zu steigen und seine oder irgendeines anderen Erwartungen zu erfüllen. Keine starren Ansichten und keine Programme mehr. Keine Maßanzüge, keine goldenen Uhren und sonstigen Luxus. Weg mit dem geistigen und materiellen Tand. Zurück zu den Notwendigkeiten.
„Look for the bare (bear) necessities, the simple bare necessities“, wie es in dem wunderbaren englischen Wortspiel in dem Song des Bären Baloo aus dem Dschungelbuch heißt.
Jamie entpuppte sich als eine ständige Energieabsaugstation. Jede Begegnung mit ihm kostete mich viel Kraft. Wie bei den meisten Künstlern ging es bei Gesprächen nur um ihn. Stundenlang schilderte er mir seine scheinbar so aussichtslose Lebenssituation. Am Rande des Ruins stehend, unglücklich in eine Berliner Göre verliebt, sah er keinen Sinn mehr, zu leben. Meine auf dem tantrischen Buddhismus beruhenden Ratschläge hörte er sich zwar an, konnte aber nicht das Geringste damit anfangen.
Eines Nachts rief er mich um 3 Uhr morgens an.
„Ollen, ich fahre gerade in meinem Porsche von Berlin nach München. Judy, - das war die Göre - will nichts von mir wissen. Ich habe es ein letztes Mal versucht. Ich rase jetzt gegen den nächsten Brückenpfeiler. Dann ist es vorbei.“
Blöderweise ließ ich mich auf sein Spiel ein und redete ihm den sowieso nicht ernst gemeinten Selbstmord aus. Von da an rief er jeden Morgen Punkt neun Uhr an. Jedes Gespräch begann er mit den Worten: „Ollen, mir geht´s so schlecht.“ Ich ging nebenbei ins Bad, rasierte mich, putzte mir die Zähne. Und lauschte mit halbem Ohr seinem Klagen und Jammern. Er legte erst auf, wenn er aus dem Haus musste. Schlief ich einmal länger, brachte Maria mir das Telefon an mein Bett.
„Hier, deine andere Ehefrau.“
Erst heute verstehe ich, dass ich den klassischen Entwicklungsprozess des Lebens eines Adepten durchmachte: erst das Ausleben der verantwortungslosen sexuellen Emotionen, dann die Entwicklung und falsche Kristallisierung eines Egos, anschließend die Zertrümmerung desselben und die ersten Schritte zur Selbstfindung auf dem Weg vom Narren zum Magier.
Jetzt kam in Gestalt Jamies die große Herausforderung: die Vernichtung eines Kyilkhors. In Wirklichkeit ist die ganze Welt mit all ihrer Finsternis nichts weiter als ein unbewusst aufgebauter Kyilkhor, der unsere Gedanken und Handlungen bestimmt. In der Magie ist das eine selbst geschaffene Tonfigur, die zum Leben erweckt und immer stärker wird, je mehr ihr Schöpfer sie fürchtet oder an sie denkt. Der Dämon beginnt zu leben, macht sich selbstständig und zwingt seinen Erschaffer zum Sklavendasein.
In der sogenannten Realität sah das etwas anders aus: Jamie schlich sich mit seinem steten Gejammer über seine angeblich verpfuschte Existenz immer mehr in meine Gedanken. Bald hatte ich den Schlüssel verloren, mit dem ich sie und damit ihn stilllegen konnte. Wie bei einem magisch erzeugten Kyilkhor wurde ich ihm untertan.
Meine immer noch vorhandene Sucht nach einem Leben auf der Überholspur hatten Bilder und Träume erzeugt, die sich manifestierten. Diese Schwäche und meine Unwissenheit hatten Jamie, den Phantom-Kyilkhor herbeigerufen. Wie ein echter saugte er das Rohmaterial meiner wertvollsten unbehüteten Schöpfungskräfte auf und verwendete sie als Waffe gegen den Menschen, der in die Falle geriet. Und das war ich.
Kapitel 5
Nach dem Gewitter kommt der Falter ins Dorf.
Vom Blütenstaub der Lilie bedeckt ist er,
Aus des Bürgermeisters Garten.
Er flattert ein bisschen
Beim Polizeihäuschen an der Kreuzung.
Dann, vom Wind empor getragen,
Schwebt er höher als der Kastanienbaum
Und höher als die Glocke
Auf dem Feuerwehrturm.
(Miyoshi Tasuji)
Kein Mensch kann leben, wenn er sich seines Nächsten Bürden auf die Schultern lädt. Und Jamie war der belastetste Typ, den ich je kennengelernt hatte. So langsam hegte ich den Verdacht, dass an Jamie das Pech klebte. Wozu hätte das Leben diese ewig unglückliche und jammernde Gestalt auch noch belohnen sollen? Er hätte es gar nicht begriffen. Ein Beispiel für seine unglaubliche Ahnungslosigkeit ist, dass eines Tages der später erfolgreichste Musikproduzent Deutschlands in sein Studio kam und ihm eine Kooperation anbot. Damals war er allerdings noch völlig unbekannt.
Jamie schickte ihn fort, weil er ihn für talentlos hielt. Ein paar Jahre später verkaufte dieser Mann Hunderte von Millionen Tonträger und wurde fast zum Milliardär.
Jamie hatte es einfach nicht drauf, wie Charles