gesagt: Kind meiner verlorenen Schwester! War denn das - -?
Leise wand sie sich aus ihrem Arme, drückte sie langsam von sich, und sie mit den großen, dunkeln Augen anschauend, flüsterte sie:
„Sind Sie denn - sind Sie denn die Schwester - meiner Mutter?"
„Ja, Valerie - ich bin es," rief die Fremde - „ich bin Marie, Deiner seligen Mutter Schwester, Deine Tante. Oh sprich zu mir, Kind - denke, daß mich die Angst um Dich verzehrt - bist Du es gewesen?"
Valerie hatte, während die Frau sprach, die Augen von ihr gewendet und lauschte dabei wie auf ein fernes Geräusch. Ihr Antlitz verrieth dabei keine Bewegung als die des Staunens, der Ueberraschung. Da plötzlich, als jene schwieg, rief sie, alles Andere um sich her vergessend, aus:
„Das waren die nämlichen Laute, das war die Stimme meiner Mutter - oh meine Mutter!" und mit wilder Heftigkeit zu den Füßen ihrer Tante niederfallend, umschlang sie deren Kniee, und Thränen - lindernde Thränen zum ersten Mal wieder seit langen trostlosen Jahren entstürzten ihren Augen.
„Meine Valerie! Mein Kind!" rief die Fremde bewegt, indem sie sich zu ihr niederbog. „Und so muß ich Dich wiederfinden - oh sage mir nur, ob Du das Schreckliche gethan."
„Nein, nein, nein, nein!" schluchzte aber das Kind, noch immer ihr Antlitz in ihrem Kleid bergend; „nie, nie habe ich ein Unrecht gethan - es war die erste Lüge, die über meine Lippen kam - aber wo wollte ich hin? - Alles stieß mich fort von sich - Niemand, Niemand auf der weiten Erde hatte mich lieb, und ich - wollte sterben."
„Oh, Gott sei ewig Lob und Dank!" rief da unter Freudenthränen die fremde Dame, und neben Valerie zu Boden knieend, umschlang sie das zitternde Mädchen mit ihren Armen und küßte wieder und wieder ihr Haupt. Der alte Assessor /83/ aber nahm, ganz in Gedanken, eine Prise nach der andern, und der Director sagte:
„Hm, das ist ja eine ganz wunderbare, höchst merkwürdige Geschichte und bedarf doch wohl noch einiger Aufklärung." Assesor Buntenfeld aber ging auf ihn zu, nahm ihn unter dem Arm und führte ihn an's Fenster, wo er lange und angelegentlich mit ihm sprach, so daß der alte Herr fortwährend vor Verwunderung dazu mit dem Kopf schüttelte. Eigentlich hatte der Assessor aber nur den Beiden Zeit geben wollen, sich wieder zu sammeln, und als er sich auf's Neue nach ihnen umdrehte, saß die alte Dame auf dem Stuhl, den ihr der Neffe hingerückt, und hielt die neben ihr knieende Valerie fest und innig an sich gepreßt.
Der alte Assessor war übrigens ein praktischer Mann und wußte außerdem, daß Gefühlsäußerungen nirgends mehr am unrechten Platze sein konnten als in diesen Räumen. Es mußte etwas geschehen, denn eine Wiedererkennungsscene und einfache Betheuerung der Unschuld einer schon Verurtheilten konnte diese nicht so ohne Weiteres befreien.
Außerdem hatte die Scene jetzt auch lange genug gedauert, und der Director, ein reiner Formenmensch, wäre ihm am Ende ungeduldig geworden. Er rückte sich deshalb einen Stuhl zum Tisch, nahm von dem dort liegenden Papier und forderte dann Valerie auf, ihm jetzt mit klaren Worten die Erlebnisse jenes Abends zu schildern und dabei auf das Bestimmteste auszusprechen, ob sie sich noch jetzt des früher eingestandenen Verbrechens für schuldig bekenne, oder, wenn nicht, weshalb sie früher eine falsche Aussage gemacht. Er litt auch nicht, daß Valeriens Tante ein Wort hineinsprach - er wollte nichts als die einfache Erzählung der Verurtheilten, und die gab ihm auch Valerie mit so schlichten, einfachen Worten, aber so herzerschütternd zugleich in der schmucklosen Schilderung ihres früheren Lebens, ihres trostlosen Verlassenseins, aus welchem sie nur durch den Tod befreit zu werden hoffte, daß die Dame vor Schluchzen kaum dem Gang derselben folgen konnte, und selbst der Assessor wieder ein paar Mal nach der Dose greifen mußte.
Vor der Hand ließ sich nun allerdings weiter nichts in /84/ der Sache thun, denn der Director konnte natürlich keinen der Sträflinge, was auch immer seine eigene Ueberzeugung gewesen wäre, entlassen - aber sie war trotzdem in guten Händen, denn der alte Assessor versprach ihnen schon für den nächsten Morgen alle nöthigen Papiere, und wenn er die ganze Nacht arbeiten sollte, mit denen sie dann in der Residenz die Freilassung der jedenfalls schuldlos gefangen Gehaltenen erwirken konnten.
Der Director war allerdings für seine Person noch nicht ganz überzeugt, und er meinte gegen den Assessor, es seien ihm in seiner Praxis schon ganz wunderbare Dinge vorgekommen, die er selber nicht glauben würde, wenn er sie nicht selber erlebt hätte. Aber der Justizminister oder das Ober-Appellationsgericht möchte entscheiden, und er wolle bis dahin dem jungen Mädchen ein besonderes Zimmer und bessere Kost geben, als die übrigen Gefangenen bekämen. Auch sollte sie die Zeit über von der Arbeit frei bleiben. Einen weiteren Verkehr mit ihren Verwandten, bis er genaue Instructionen habe, weigerte er sich aber zu gestatten. Das erlaubte ihm sein Dienst und seine Pflicht nicht, und nur die ersterwähnte Vergünstigung glaubte er unter den bestehenden Verhältnissen verantworten zu können.
Dabei mußte es natürlich vor der Hand bleiben, und wie schwer sich auch die Fremde jetzt gerade von dem kaum wiedergefundenen Kinde trennte, so geschah es doch in der frohen Hoffnung, die Unglückliche bald, recht bald wieder dem Leben, der Freiheit zurückgegeben zu sehen. Immerhin vergingen indeß noch volle drei Wochen, bis alle nöthigen Wege eingeschlagen, alle nöthigen Formen beobachtet waren. Aber die Aussagen des alten, bis dahin gestorbenen Bänkelsängers waren zu klar gewesen, der Assessor versäumte außerdem nichts, die bedauernswerthen Schicksale des armen Mädchens hervor zu heben, und nach Ablauf der Zeit hielt ein geschlossener Wagen vor der Anstalt und rollte bald darauf, ein paar glückliche Herzen bergend, der Residenz wieder zu. /85/
10.
Schluß.
Fünf Jahre waren verflossen, als eine offene, sehr elegante Reisekalesche eines Tages wieder langsam durch Osterhagen fuhr. Wie damals, saß auch ein Husarenofficier und eine Dame im Fond des Wagens, aber die Dame sah jung und blühend aus, und auf dem Rücksitz befand sich noch ein junges kräftiges Bauermädchen mit einem prächtigen kleinen Burschen von etwa anderthalb Jahren auf dem Schooß.
Der Wagen fuhr aber nicht nach dem Kirchhof, der keine lieben Todten mehr barg, denn schon im vorigen Jahr waren unter Oberaufsicht des alten Assessors Buntenfeld drei Särge von dort ausgehoben, in dazu herbeigeschaffte bleierne Uebersärge gelegt, diese dann verlötet und fortgefahren worden. Die Kalesche rollte nur geraden Wegs zu dem Gemeinde- Armenhaus hinaus und hielt dort.
Eine in zerrissene Lumpen gekleidete Frau, mit verwilderten Haaren, das Gesicht aber aufgedunsen und roh, als ob die widerliche Gestalt dem Trunk ergeben wäre, saß davor und starrte die fremden Besucher mit ihren gläsernen Augen an.
Die junge Dame schrak zurück und schauderte zusammen.
„Um Gott, Edmund," flüsterte sie dem Gatten zu, „das ist des Schulzen Frau - oh wie entsetzlich sie aussieht!"
„Das also ist die Dame," nickte der Officier; „die scheint allerdings schon auf Erden die Strafe für Alles erhalten zu haben, was sie an Dir, Du armes Herz, verübt; aber mit dieser Person wollen wir uns nicht aufhalten. Wie hieß die Frau, nach der Du fragen wolltest?"
„Kunze," flüsterte seine Begleiterin.
„Lebt hier im Hause noch eine alte Frau Kunze?" wandte sich jetzt der Fremde an die auf der Schwelle kauernde Gestalt.
„Hier im Haus?" knurrte diese, mit einem tückischen Blick /86/ nach dem Frager - „hier im Haus lebt Niemand als ich - Alles ist todt, Alles begraben aus dem öden Nest, und wenn Sie mich besuchen wollen, so müssen Sie Nachmittags zum Kaffee kommen."
„Aber die Frau mit den beiden Kindern," rief Valerie erschreckt, „die kann doch nicht gestorben sein?"
„Nein," lachte die Alte - „die ist blos verrückt geworden, und die Kinder sind in die Ziehe gegeben."
„Großer, allmächtiger Gott!"
„Ja, was hat der liebe Gott damit zu thun," höhnte die Halbtrunkene. „Wer hier im Hause wohnt, muß verrückt werden, und ich werde mich auch nächstens anmelden - reif bin ich schon."
„Und wer hat die Kinder aufgenommen?"
„Wer? - nun die alte