nicht leisten. Da sind auch meine .... Freunde und Freundinnen!“
„Die Sie so im Stich gelassen haben? Dass Sie allein auf der Landstraße Autos anhalten mussten? Sich diesen Gefahren ausgesetzt sahen? Merkwürdige Freunde. Es wird wohl besser sein, dass wir den Rucksack abholen lassen. Und wenn’s klappt, sind Sie natürlich Gast!“
„Und dann?“
„Keine Angst, mein Fräulein ....“
„Ich heiße Julia!“
„Keine Angst, Fräulein Julia, Sie verpflichten sich zu nichts, kein Obligo, nur eine Alternative: Übernachten in einem Barockschloss. Natürlich in einem eigenen Zimmer. Mit Bad. Und zuvor ein schöner Sommerabend, wenn Sie wollen mit einem Gläschen Wein, auf der Terrasse hoch über dem See. Wäre das nicht eine stilvolle Alternative zur Jugendherberge? Wie gesagt, wenn die Gräfin da ist und wir nicht ungelegen kommen!“
„Sind Sie ein Graf? Ein Adliger?“
„Nein, nicht ich, aber die Schlossherrin. Eine gute Bekannte. Eine Seelenverwandte.“
Von Tettnang, wo Opi zu einem Termin, wie er sich ausdrückte, ins Rathaus verschwand, telefonierte er mit der Seelenverwandten in Meersburg.
Der Mann begann mich zu faszinieren. Aber ich wusste nicht warum.
Es war nicht das große Schloss, aber ein ansehnliches. Der Kies knirschte unter den Reifen. Eine geschwungene Vorfahrt hinter weißgestrichenen schmiedeisernen Toren. Ich sagte ja schon, irgendwie war alles ein bisschen nach Courths-Maler, Lore-Roman, kitschig eben. Die Anhalterin und der begüterte alte Mann. Fast unerträglich. Aber meine Neugierde hinderte mich daran zu fliehen. Ich hätte ja nur zu sagen brauchen, dass ich doch lieber wieder zu meinen Freunden stoßen wolle. So wie ich angezogen war, mit nicht mehr ganz frischen Jeans und einer Feldwaldundwiesen-Bluse.
„Ah, da seid Ihr ja endlich, Professore! Ei - und was hat er denn da für ein hübsches Frauenzimmerchen mitgebracht? Wird er mir letztlich untreu, du Schlingel, du?“
„Das ist Julia, die Anhalterin - und ich bin ihr Retter! Habe sie von den Abgründen der Landstraße zurückgerissen. Soweit ich weiß, hat man sie ausgesetzt!“ So stellte Opi mich lachend vor und die steinalte, weißhaarige, hochgewachsene Gräfin bot mir beide Hände.
„Julia, vor dem Professore, da müssen Sie sich vorsehen! Alter schützt vor Torheit nicht. Gott sei es gedankt, nicht wahr, mein lieber Alfred. Lange hast du dich nicht blicken lassen. Zu lange. Ich bin verdorrt! Siehst du das nicht? Ich kann mir Tage und erst recht Wochen ohne Liebe nicht mehr leisten in meinem Alter! Und dann angelst du dir eine Julia von der Straße?“
„Du kannst mich doch hier vor dem blitzsauberen Mädele nicht so dekuvrieren und gleich alle unsere Heimlichkeiten verraten!“
Sie küssten sich wie ein Liebespaar. Die Gräfin in einem ganz schlichten, beigen Leinenkleid, so ein ganz dezenter Landhausstil. Er mit seinem dunkelgrünem Janker über einer Tweedhose.
„Kommt rein. Es ist schon gedeckt. Zeig mal der Julia ihr Zimmerchen, und du weißt ohnehin Bescheid. Wo hat sie denn ihren Koffer?“
„Vermutlich in der Jugendherberge. Ich sagte ja schon, ihre Freunde sind vorausgefahren!“
Ich korrigierte, indem ich betont ergänzte „und Freundinnen! Wir sind eine Clique, aber es gab Knatsch. Das muss ich nicht haben!“
„Kein Problem, wir lassen die Sachen nachher abholen. Ich glaube, dies ist hier eine bessere Wahl als die ständig überfüllte Jugendherberge und der Trubel in der Altstadt!“
Das Zimmerchen - war ein Palast! Mit stuckverzierten Decken und Nischen. Mit alten Möbeln und Bildern, mit knarrenden Dielen unter etwas abgewetzten Teppichen. Aber mit einem Bad, Dusche und Klo. Alles proper hergerichtet. Hier werden offensichtlich jeden Tag Gäste erwartet.
„Ihr habt noch Glück mit dem Wetter! Wenn der Säntis so klar zu sehen ist, wird es nicht mehr lange halten. Diese lauen Sommernächte sind rar in diesem Jahr. Ach, Professore, was waren die Sommer früher doch viel schöner! Wie oft haben wir hier ganze Nächte vertändelt. Als ich noch ein bisschen knackiger war! Und jetzt? Wird schon der Sommer zum Herbst, so wie wir!“
Die Gräfin hatte ein kleines Abendbrot serviert, eine Bouillon, ein paar Toaste mit Butter, dann gab es Pasteten mit Ragout und Champignons. Natürlich einen wohl ziemlich kostbaren Weißwein. Gottlob auch Wasser dazu, sonst wäre ich bald bedudelt gewesen.
Die beiden kannten sich offensichtlich schon ein Leben lang. Ich weiß selbst nicht, wie so zwischen zwei alten Leuten eine so erotische Atmosphäre zustande kommen kann. Das knisterte nur so. Verbalerotik als Ersatz? Immer wieder bezogen sie mich in ihre Reminiszenzen ein.
„Ja, liebe Julia, Freundschaften fürs Leben, das ist das Kostbarste, was letztlich bleibt. Aber tief müssen sie gehen. Tief wie die Wurzeln eines sturmgebeugten Baumes. Geist-reich ist viel wichtiger als reich. Reich an Geist. Gespräche sind wichtiger als Sex. Erlebensfreude wichtiger als Lebensfreude!“ Die Lebensweisheiten der Gräfin - nicht wie ein mütterlicher Rat, eher als würzige Zutat zu diesem Mahl auf der Schlossterrasse mit dem Blick weit über den See.
„Mein lieber Alfred, was haben wir nicht alles schon erlebt. Ich meine jetzt nicht den Krieg, nicht den Hunger, nicht die Enteignungen, die Katastrophe. Der Alfred hat mir die Kunst erschlossen.“
„... und sie mir andere Künste!“
„... aber das eine nicht ohne das andere! Ach, Julia, eure Generation, die kann sich vieles leisten, an was wir nicht zu träumen gewagt hätten. Trampen mit Freunden und Freundinnen, Urlaub machen mit einem Mann, ohne verheiratet zu sein - oh Gott, da wäre der Himmel eingestürzt. Noch dazu: Adel verpflichtet! Vorbild sein und nochmals Vorbild sein. Das hieß vor allem: bescheiden sein, fleißig, tadel-los, im wahrsten Sinne des Wortes .... aber beneiden tue ich euch nicht. Julia, ich will um des Himmels Willen nicht die alte Tante spielen und höre auch gleich auf. Nur eines müssen Sie sich merken: Wenn es nicht tief geht - und Tiefe braucht Zeit, dafür hatten wir eine Verlobungszeit - dann lieber allein durchs Leben gehen. Flachwurzler fallen jedem Sturm zum Opfer.“
Ich will und kann nicht alles wiedergeben, was wir in den Abend und die Nacht hinein geplaudert haben. Der Wein war gut. Zu gut. Und es war ein Genuss, den beiden alten Leutchen zuzuhören. Sie war seine Freundin, schon seit langer, langer Zeit. Und ist seine Freundin. Bewundernswert. 81 ist sie. Und er?
Noch nie hatte ich Kunstgeschichte als Lebensgeschichte verstanden. Der „Professore“ verstieg sich nun zu der These, jeder kultivierte Mensch erlebe alle Stil-Epochen zunächst von der Romanik über die himmelstürmende Gothik zur Renaissance, lande irgendwann im sinnenfrohen Rokoko, romantisch verklärt und würde dann zum Sklaven der Moderne.
„Warum Sklaven?“ wollte die Gräfin wissen.
„Weil man nicht widersprechen darf. Wer moderne Kunst nicht als Kunst anerkennt, gilt als absoluter Banause. Sieh’ nur, meine Liebe, Bauwerke die krumm und schief errichtet werden, sind der allerletzte Schrei. Die Architekten werden in den Himmel gehoben. Widerspruch unmöglich, wenn man sich nicht unmöglich machen will! Sklaverei des Geistes! Aber was rege ich mich auf. Ich bin längst auf dem Rückweg, habe das Rokoko schon hinter mir gelassen, bin - bei dir - wieder im Barock gelandet. Die Renaissance wird mir versagt bleiben ...“
„Komm, komm, hör auf, du fährst mit einer lieblichen Julia vor und spürst nicht, dass die Renaissance längst stattgefunden hat - heißt ja schließlich „Wiedergeburt“ oder?“
„Na ja, aber nicht mehr lange, dann wird mich gotische Gläubigkeit umfangen und romanische Finsternis!“
Mein Rucksack kam mit dem Taxi. Ich hatte dort angerufen. Michi war sehr, sehr neugierig. Vor allem, als ich ihm verriet, dass ich bei einer echten Gräfin in einem echten Schloss gelandet bin.
Die Nacht war kurz.
„Kommt doch heute abend wieder! Lass mich alte Haut nicht wieder so lange warten! Wer weiß, wie lange ich’s noch mache. Jede Nacht, die du mir schenkst, schenkt mir ein weiteres