Inga Kozuruba

Die Hexe und der Schnüffler


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Schritte weiter, bis er zum Stehen kam. Arina war an einer Bushaltestelle stehen geblieben und zog sich ihre Schuhe an. Danach fischte sie einen Taschenspiegel aus ihrer Handtasche und korrigierte den Sitz ihrer Frisur. Andy ging zu ihr und warf einen Blick auf den Fahrplan. Es gab genau eine Nachtlinie, die an dieser Haltestelle vorbeikam. Der nächste Bus war in 2 Minuten fällig. Und wie der Zufall es so wollte, würde er durch das Viertel fahren, in dem die Wohnung des verschwundenen Mädchens lag. Andy warf Arina einen misstrauischen Blick zu.

      Sie zuckte mit den Schultern: „Manchmal muss man einfach Glück haben, findest du nicht?“

      „Ist es denn eine gute Idee, den Bus zu nehmen?“, fragte er immer noch schwer atmend.

      Sie lächelte: „Keine Sorge, wir tauchen in der Menge unter. Solange da nicht ausgerechnet einer von Ruths Leuten mitfährt, versteht sich. Aber wie groß stehen die Chancen dafür?“

      Andy murmelte: „Und wie groß sind die Chancen dafür, dass wir ausgerechnet hier und jetzt einen passenden Bus erwischen?“

      Während der besagte Bus anhielt und die Türen öffnete, schmunzelte sie: „So viele Busse gibt’s hier nun auch wieder nicht. Und es macht doch Sinn, dass in einem Viertel, wo viele Studenten wohnen, eine Nachtlinie durchfährt. Junge Leute feiern gern.“

      Andy beschloss für sich, dass es besser war, ihr nicht zu widersprechen. Stattdessen nickte er einfach nur, während er ihr in den Bus folgte. Sie nahm den Fensterplatz von zwei nebeneinander liegenden freien Sitzen ein und wirkte ganz und gar fasziniert von den nächtlichen Straßen der Stadt. Bei einem Blick in ihre Richtung bemerkte Andy jedoch, dass sie eigentlich aufmerksam die anderen, allesamt leicht beleuchteten Mitfahrer über die Spiegelung im dunklen Fenster musterte.

      Die Fahrt würde noch einige Minuten in Anspruch nehmen, also holte Andy sein Notizblock aus der Tasche hervor, schlug den letzten Eintrag auf und reichte ihn Arina. „Was hältst du davon?“, fragte er sie leise.

      Sie überflog die Zeilen und antwortete mit ebenso gedämpfter Stimme: „Der Schreiberling ist männlich, eher oberflächlich von seiner Orientierung her, vermutlich sehr gutaussehend und eitel, und könnte ein Kontrollfanatiker sein. Nicht sehr romantisch, aber vermutlich gut im Bett, um seinem Ego zu schmeicheln. Ach, du meinst den Inhalt... ähm... nicht so wichtig, das übliche Bla Bla. Vermutlich machen sie eine Gehirnwäsche mit der Kleinen, aber ich würde nicht ausschließen, dass sie auf diese Weise... mehr als nur in ihrer Psyche verändert wird.“

      Andy räusperte sich: „Das hätte ich gern genauer, wenn es geht. Du kennst diese Methoden vermutlich besser als ich.“

      Sie zog eine Augenbraue hoch: „Was willst du mir damit sagen?“

      Er zuckte mit den Schultern: „Ich meinte, du kennst dich mit... Dingen aus, von denen ich keine Ahnung habe.“

      Sie rollte mit den Augen: „Ich denke, sie werden etwas ähnliches mit ihr machen, wie Steves Freunde mit ihm angestellt haben, um sein Potential als Träumer zu wecken. So was ähnliches, was Elaine auch widerfahren ist, nur etwas anders inszeniert. Sie wollen schließlich Alice aus ihr machen. Und wenn es nur halb so schlimm laufen wird wie die Initiationsriten von Teenagern in Papua-Neuguinea, dann hat sie echtes Glück. Stell dir mal bitte Teenager mit übernatürlichen Fähigkeiten vor – ein Alptraum. Ich weiß das, ich war selbst mal einer.“ Sie kicherte wieder.

      Andy rutschte unruhig auf seinem Sitz herum und packte seinen Block wieder ein: „Das gefällt mir ganz und gar nicht.

      Arina zuckte mit den Schultern: „Ich denke, das werden wir bald sehen... dreh dich jetzt bitte nicht um... siehst du die Spiegelung da im Fenster?“

      Andy folgte ihrem Blick, konnte aber nur einen unauffälligen Mann in einem Anzug von der Stange erkennen, mit einem Aktenkoffer auf dem Schoß, auf dem wiederum ein Hut lag. Sowohl Hut als auch Anzug waren grau, ebenso die Krawatte, während Schuhe und Aktenkoffer dunkler waren, vermutlich irgend ein Braunton.

      „Sieht aus wie ein Beamter, wenn du mich fragst“, flüsterte er ihr zu.

      „Du hättest mir an der Bushaltestelle nicht widersprechen sollen. Das ist einer dieser... Leute. Siehst du nicht den Blick seiner Augen?“, antwortete sie ihm noch leiser.

      Andy zuckte mit den Schultern: „Sieht mir nach niemand besonderem aus, wenn du mich fragst. Ist nur seltsam, so jemand um diese Uhrzeit im Bus voller Partymäuse und Betrunkener zu sehen.“

      Arina erschauerte kurz: „Unwissenheit ist nicht immer ein Segen, Andy. Der Mann ist voller Gift, um es mal bildlich auszudrücken. Ich hoffe, er kommt nicht auf die Idee, uns seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Mit etwas Glück ist er wegen jemand anderem in die Nacht hinausgegangen. Vielleicht will er den Liebhaber seiner Frau ermorden oder etwas in der Art. Ich würde nicht wollen, dass er mich in die Finger bekommt.“

      Andy war nun doch etwas überrascht von den offensichtlich sogar gedämpften Emotionen in ihrem Flüstern und lenkte seinen Blick erneut in Richtung dieses oberflächlich so unauffälligen Mannes. Für einen Moment trafen seine Augen dessen Spiegelung und er hielt den Atem an. Hinter der langweiligen Fassade lauerte ein Sadist. Er wusste nicht einmal, warum ihm der Gedanke in diesem Augenblick kam, aber aus irgend einem Grund zweifelte er nicht im Geringsten daran.

      Arina flüsterte wieder: „Es gibt Muster, die sich wiederholen, immer wieder, in verschiedenen Geschichten. Manche sind derart präsent, dass sie mehrmals zur gleichen Zeit existieren können. Ich glaube, der da könnte einen Abglanz des Schergen in sich tragen... er sieht zu uns...“ Sie hatte in der Tat recht. Der Blick des Mannes blieb verdächtig lange in ihrer Richtung hängen.

      Bevor Andy irgend etwas tun konnte, griff Arina nach ihm und zog ihn an sich, um ihn zu küssen. Völlig überrascht spürte er ihre weichen, warmen Lippen auf seinen, das Züngeln ihrer Zungenspitze, und dann wirbelten seine Gedanken davon wie Blütenblätter im Frühling, um einer angenehmen, aus Wohlgefühl bestehenden Leere im Kopf Platz zu machen.

      „Nicht aufhören, noch nicht“, dachte er sich, als dieser Zustand abrupt endete. Dennoch trat an seine Stelle sein wieder zurückgekehrtes Bewusstsein und die Wahrnehmung einer warmen Umarmung. Sie hatte sich an ihn gekuschelt.

      „Nimm mir das bitte nicht übel... aber es gibt hier kein einziges Pärchen, das nicht zumindest ab und zu herumknutscht... wir fallen sonst auf.“

      Er räusperte sich und fragte sie flüsternd: „Hast du eigentlich jemals jemanden ohne einen Hintergedanken an den daraus entstehenden Nutzen geküsst?“

      Sie seufzte leise: „Es ist sehr lange her...“

      Mehr wollte sie anscheinend nicht zu dem Thema sagen. Aber zumindest schien ihr Ablenkungsmanöver seine Wirkung nicht verfehlt zu haben. Für den eigenartigen Mann im Bus wurden sie genauso uninteressant wie alle anderen Mitfahrer. Als sie an der für sie richtigen Haltestelle ausstiegen, fuhr er weiter.

      Arina schien angespannt abzuwarten, bis schließlich selbst das schwächste Echo des Motorgeräusches verklungen war. Als es endlich still war, atmete sie tief durch und wirkte erleichtert. Andy stellte überrascht fest, dass er sich ihrem Verhalten angepasst hatte und nun ebenfalls freier zu atmen begann.

      Sie warf ihm einen merkwürdigen, prüfenden Blick zu und lächelte dann: „Ich bin das Mädchen, vor dem deine Mutter dich immer gewarnt hat, und die Frau, die von alle anderen Frauen gehasst wird“, sagte sie schließlich leise. „Die Tragweite mancher Entscheidungen erkennt man erst, wenn es viel zu spät ist, um sie rückgängig zu machen... oder die Kosten so schrecklich hoch werden, dass man es sich nicht mehr traut.“ Dann verschwand der leichte Anflug des Ernstes von ihrem Gesicht und machte wieder dem amüsierten Schmunzeln Platz, das sich sonst auf ihrer Miene herumtrieb: „Na ja, nicht alle Frauen. Ich habe tatsächlich auch Freundinnen, wenn auch nicht allzu viele. So, wo genau müssen wir hin?“

      Andy sah sich um, gewann schnell seine Orientierung wieder und ging los. Arina stöckelte neben ihm her, aber nun war das Klacken ihrer Absätze deutlich leiser als zu Beginn des Abends. Ihr Weg von der Haltestelle zu Tinas Haus führte sie an etlichen anderen Gebäuden vorbei, die in der Finsternis der Nacht