Andreas Parsberg

Im Zeichen des Ares


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      Und nun hatte er den Befehl erhalten, sein Schwert von der höchsten Klippe ins Meer zu werfen. Dort würde es sein Onkel Poseidon, der Herrscher der Meere, in Empfang nehmen und sicher verwahren.

      Das sollte doch bereits Strafe genug sein!

      Aber nein, sein Vater hatte eine weitere Strafe bestimmt. Er musste noch zusätzlich die Welt der Menschen verlassen und sich in die Obhut von seinem Onkel Hades, dem Herrscher der Unterwelt, begeben. Dort sollte er so lange bleiben, bis seine Seele ausreichend geläutert war.

      So ein Mist, dachte er. Diese Strafe empfand er als starke Erniedrigung. Er sollte viele Jahrhunderte in der Unterwelt verbringen. Wahrscheinlich würde er vor Langeweile eingehen, wir ein Mensch ohne Liebe.

      Diese zusätzliche Strafe hatte er dem gehörnten Ehemann seiner Geliebten zu verdanken. Nur weil er mit dessen Ehefrau fünf Kinder gezeugt hatte? Er wusste, dass Hephaistos nicht eifersüchtig war, denn er betrog seine Gemahlin ebenfalls ständig. Aber der gehörnte Gatte fühlte sich in seinem Stolz und in seiner Ehre beschmutzt. Dem Betrogenen war bewusst, dass er in einer direkten Auseinandersetzung verlieren würde, daher hatte er auf der zusätzlichen Strafe mit dem Gang in die Unterwelt bestanden.

      Pah!, dachte er. So ein Feigling!

      Aber dann huschte ein Lächeln über seine Lippen, denn plötzlich dachte er an seine Geliebte, an die Ehefrau des Hephaistos. Wie sehr er die Frau liebte, spürte er mit jedem Atemzug. Es war niemand Geringeres als Aphrodite, die Göttin der Liebe, der Schönheit und der sinnlichen Begierde. Er hatte fünf Kinder mit Aphrodite gezeugt: Anteros, Gott der verschmähten Liebe; Harmonia, Göttin der Eintracht; Deimos, Gott des Grauens; Phobos, Gott der Furcht; Enyalios, Gott des Kampfes.

      Sein Herz zog sich zusammen, wie von einer mächtigen Faust gepresst. Was würde aus seinen Kindern werden, wenn er in die Unterwelt zu seinem Onkel Hades verbannt wird? Würde Aphrodite ihren unehelichen Nachwuchs verstoßen, wie es der gehörnte Ehemann sicher verlangen wird?

      Erneut zuckte er mit den Schultern und öffnete die Augen. Er blickte über das offene Meer und war sicher, dass sein Onkel Poseidon unter der Wasseroberfläche bereits auf das Schwert wartet und ihn aufmerksam beobachtet.

      Er wandte seinen Kopf nach links und erkannte den Fluss Acheron, der nur unweit von seiner Position in das Meer mündete. Auf dem Fluss wartete bereits der Fährmann Charon, der ihn zu seinem Onkel Hades bringen würde.

      Er schloss abermals die Augen, legte den Kopf in den Nacken und genoss für wenige Augenblicke die letzten wärmenden Strahlen der Sonne. Kalter Wind war über der griechischen Küste aufgekommen, fuhr raschelnd durch das Gras unter seinen Füßen. Irgendwie hatte dieser Wind eine fast symbolische Bedeutung für ihn. Für dieses Land, vielleicht für die ganze Welt. Es war Abend, aber es schien nicht nur der Abend eines Tages zu sein, sondern der Sonnenuntergang einer Epoche, die kurze Dämmerung, der Jahrhunderte der Finsternis folgen sollten.

      Er wusste, dass die Menschen ihn als unbesiegbaren Helden ansehen werden. Was würden all diese nachfolgenden Generationen wohl sagen, dachte er, wenn sie ihn jetzt sehen könnten? Einen verurteilten Gott, der mit gebeugten Schultern auf einer felsigen Klippe steht und mit Tränen in den Augen an seine fünf Kinder denkt.

      Gegen seinen Willen musste er lächeln. Götter weinen nicht! Das war einer der Grundsätze, die sie ihm immer und immer wieder eingehämmert hatten.

      Er öffnete die Augen und trat dicht an den Felsabbruch heran. Das Meer rollte fast hundert Meter unter ihm donnernd gegen die schwarzen Klippen.

      Er hob das Schwert, fing die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf dem blitzenden Metall ein und studierte die verschlungenen Gravuren auf der fast meterlangen Klinge. Es schimmerte immer noch makellos und rein in seinen Händen. Nicht der winzigste Fleck war auf dem gehärteten Stahl zurückgeblieben. Das viele Blut hatte keine Spuren hinterlassen.

      Er spürte das sanfte, beruhigende Pulsieren der Waffe in seinen Händen: den Pulsschlag der ungeheuren magischen Kräfte, die in dem schlanken Stück Stahl eingeschlossen waren. Die Macht, die in diesem Schwert schlummerte, war ihm nur zu deutlich bewusst.

      Mit Unique war er unbesiegbar!

      Mit einer entschlossenen Bewegung holte er aus und schleuderte sein Kriegsschwert von sich. Die Waffe beschrieb einen weiten, glitzernden Bogen, drehte sich wie unter einer inneren Kraft schneller und immer schneller, bis es einem flammenden Feuerrad zu gleichen schien.

      Dann tauchte es in den Wellen unter. Poseidon, der Bruder seines Vaters, würde das Schwert gut verstecken, sodass es niemals in falsche Hände fallen würde, um als unbesiegbare Waffe missbraucht zu werden.

      Er blieb noch lange so stehen, starrte auf die Stelle, an der Unique verschwunden war, und dachte nach. Er fühlte sich wie von einer schweren, drückenden Last befreit, denn er hatte den Befehlen seines Vaters, dem Göttervater Zeus, gehorcht.

      Dann spürte er eine schwere Hand, die sich auf seine Schulter legte. Er drehte den Kopf und blickte in die schwarzen Augen des Fährmannes Charon.

      „Kommst du, Ares?“, forderte der Fährmann. „Hades wartet bereits auf dich.“

      Und Ares, der Gott des Kriegsgemetzels, nickte zustimmend und folgte dem Fährmann in die Unterwelt.

      1

       Delta Hotel

       Kerameon 27, Athen, Griechenland

      „Hast du mit ihr gesprochen?“, erkundigte sich Selma Al Sayed, nachdem sie das Hotelzimmer betreten und die Tür hinter sich verschlossen hatte.

      „Ja“, antwortete Karim, der zwei Jahre ältere Bruder von Selma.

      „Und? Nun mach es nicht so spannend!“, fauchte seine Schwester und warf zwei Einkaufstaschen auf das Bett.

      „Faizah geht es gut, wenn du das gemeint hast, aber du hast doch heute bereits selbst mit ihr telefoniert.“

      „Das meinte ich nicht! Du weiß genau, was ich wissen wollte.“

      Natürlich wusste Karim, was seine Schwester interessierte. Bevor sie aus der syrischen Stadt Hesen Dera geflüchtet waren, hatte Karim eine Liebesbeziehung mit Faizah, der hübschen Nachbarstochter, begonnen. Die Flucht hatte das Liebespaar getrennt. Karim war mit seiner Schwester Selma durch den Abyssos, die Unterwelt der Dämonen, gereist, da auf beide ein Auftrag in Deutschland wartete. Gleichzeitig war die Bevölkerung von Hesen Dera in die Türkei geflüchtet.

      Karim hatte während der abenteuerlichen Reise durch den Abyssos und den Hades von Faizah geträumt und das Mädchen in guter Hoffnung gesehen.

      „Ja, das weiß ich genau“, meinte Karim nachdenklich.

      „Karim! Du nervst langsam! Nun sag mir schon, was los ist“, sagte Selma, mittlerweile leicht genervt.

      „Faizah ist wirklich schwanger.“

      Selma grinste breit und warf sich dem Bruder an die Brust. „Ich gratuliere, Karim, das ist wundervoll.“

      „Danke, Selma.“

      „Wie geht es ihr? Wie verträgt sie die Schwangerschaft? Ist ihr oft übel?“

      „Äh?“

      „Du weißt das nicht?“

      „Nein. Aber sie hörte sich gut an.“

      „Du bist ein Dummkopf! Warum hast du Faizah nicht danach gefragt?“

      „Wir sprachen über wichtigere Dinge“, antwortete Karim.

      „Was könnte denn wichtiger sein?“

      „Hm.“

      „Na gut, ich will es gar nicht wissen“, meinte Selma und löste sich aus der Umarmung. „Hast du es Vater oder Tarek bereits gesagt?“

      „Nein ... ich habe bisher nur mit Faizah telefoniert.“