Gisela Schaefer

Kurzgeschichten


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      Es verging eine ganze Weile, ehe sich Marie an ihren zweiten Wunsch erinnerte.

      „Meinst du, ich sollte ihn nochmal laut aussprechen,“ fragte sie eines Tages.

      „Was? Oh … den zweiten Wunsch, den Unterwasserwunsch … na ja, schaden kann es nicht, aber lass ihr Zeit, bedräng sie nicht, deine Wünsche sind harte Nüsse.“

      „Ich drängle ja gar nicht, ich dachte nur … vielleicht hat sie ihn vergessen.“

      Thilo nickte - höchste Zeit, sich wieder mal den Kopf zu zerbrechen. Das Naheliegendste wäre gewesen, seine Eltern für einen Urlaub am Meer mit Goggle-Maske für Marie zu begeistern. Aber das wäre zu einfach gewesen und hätte auch nicht dem Ziel gedient, seine Schwester hier zuhause von ihm abzulenken und fernzuhalten. Es vergingen ein paar Wochen, dann fand sein kluges Köpfchen die Lösung. Er wälzte Bücher, zeichnete Konstruktionspläne, stellte Berechnungen an, und wählte wieder Mathilde und Elmar als Helfer – sie hatten sich bestens bewährt.

      „Mhm, das lässt sich machen,“ sagte Elmar, die Lesebrille auf der Nasenspitze balancierend, während er Zeichnungen und Erklärungen studierte.

      „Hast du alles verstanden,“ fragte er Mathilde streng, woraufhin sie etwas pikiert antwortete: „Kümmer du dich nur um deine Sachen, ich komm schon klar.“

      Als sie dann aber das wahre Ausmaß ihres Anteils an dem Gemeinschaftsvorhaben vor Augen sah, entfuhr ihr ein kleinlautes: „Ach du Schreck!“

      Auch die Erfüllung des zweiten Wunsches erforderte einen kleinen Kompromiss. Für die letzten Handgriffe wählten die Verschwörer ein Wochenende aus, an dem Thanners einen Verwandtenbesuch mit Übernachtung geplant hatten. Thilo bedauerte zutiefst, nicht mitfahren zu können - eine Erkältung sei im Anmarsch, er spüre es ganz deutlich, im Hals, in der Nase, überall - auf keinen Fall wolle er jemanden anstecken – außerdem müsse er die Klassenarbeit in Mathe vorbereiten - er hoffe nur, kein Fieber zu bekommen, undsoweiter, undsofort. Frau Thanner schaute ihn durchdringend an, aber Thilo hielt ihrem Blick stand und zuckte mit keiner Wimper – manchmal musste man auch mit einer gewissen Härte für seine eigenen Interessen kämpfen. Kaum waren sie abgefahren, als Mathilde, Elmar und Thilo sich ans Werk machten.

      Am Sonntagnachmittag, als die Reisenden zurückkehrten, saßen sie mit Unschuldsmienen im Wohnzimmer. Es duftete nach Kaffee und auf dem schön gedeckten Tisch stand ein selbstgebackener Apfelkuchen, weiß bestäubt mit Puderzucker.

      „Oh,“ sagte Frau Thanner und dachte daran, dass sie eigentlich furchtbar müde war, dass sie das ganze Wochenende über Kuchen gegessen, zu viel geredet und sich auf einen stillen Ausklang gefreut hatte. „Sehr lieb von euch,“ brachte sie tapfer hervor und wurde das Gefühl nicht los, dass in irgendeiner Ecke das dicke Ende lauerte.

      Marie umarmte stürmisch ihre Großeltern und zwängte sich zwischen sie auf das Sofa, munter plappernd wie immer. Auspacken, Umziehen, das konnte warten. Die Stimmung war nicht schlecht, aber Frau Thanner beobachtete mit wachsender Sorge die vielsagenden Blicke zwischen ihren Eltern und ihrem Sohn – verdächtig auch sein Wohlbefinden. Endlich hatten sie genug Kuchen in sich hineingestopft und erhoben sich. Marie öffnete die Tür ihres Zimmers und blieb verdutzt stehen.

      „Mama,“ schrie sie, „mein Bett ist weg!“

      „Was?“ Herr Thanner sprang auf. „Thilo, hier ist eingebrochen worden und du hast nichts davon bemerkt! Mal wieder mit dem Kopf in den Büchern gesteckt … man kann es auch übertreiben. Ihr geht alle durchs Haus und schaut nach, was fehlt. Ich rufe die Polizei!“

      „Immer mit der Ruhe,“ Elmar klopfte seinem Sohn beruhigend auf die Schulter, „wir werden das Bett schon wiederfinden, komm nur mit.“

      Alle eilten in Maries Zimmer. In der Tat, auf den ersten Blick konnte man wirklich glauben, dass Maries Bett gestohlen worden war, denn da, wo es stehen sollte, hing ein Vorhang, blau-grün schillernd, von der Decke bis zum Boden. Nur an einer Stelle war er offen und natürlich stand Maries Bett an seinem gewohnten Platz, nur dass es vom Vorhang vollkommen umgeben und verdeckt war.

      „Geht nur hinein,“ Elmar machte eine einladende Geste in Richtung Marie und deren Eltern. Widerstandslos gehorchten sie – und stellten überrascht fest, dass sie ringsum von Seegras, Korallen und Fischen umgeben waren. Dann wurde es dunkel, weil Mathilde die Rolläden runter ließ - aber nur für einen Moment, denn gleich darauf flammten an allen Wänden Lämpchen auf. Thilo drückte auf die Fernbedienung und der Vorhang begann, sich langsam um das Bett herum zu drehen. Die sanften Wellenbewegungen und das Schillern des Stoffes erweckten den Eindruck, als ob sie mitten in einem Korallenriff wären: Silberne Schwärme von Fischen zogen vorbei, ein rot-blau getupfter Zackenbarsch, bunte Kaiser- und Papageienfische, rote Seesterne, kunstvoll gemusterte Schneckenhäuser, Algen, Seepferdchen - die Illusion war perfekt und sie genossen eine ganze Weile überwältigt und stumm die zauberhafte Unterwasserwelt.

      Wochen hatte Thilo dafür gebraucht, jede einzelne Stoffbahn zu bemalen, in Elmars Werkstatt. Natürlich war Frau Thanner aufgefallen, dass sowohl ihr Sohn selber als auch seine Kleidung häufiger die Farbe gewechselt hatte. Mal waren es lustige bunte Spritzer auf der Hose, mal eine grasgrüne Strähne im Haar oder schmuddelig braune Reste unter den Fingernägeln. Aber sie hatte sich längst daran gewöhnt, mit Thilos nicht alltäglichen Überraschungen und Eigenarten zu leben. Mathilde hatte die Bahnen zusammengenäht, Meter für Meter, und zum Schluss Gardinenband und Haken angebracht. Gerade als sie erleichtert aufatmend die letzten Stiche getan hatte, das Rattern ihrer Nähmaschine verstummt war, entdeckte sie ein übrig gebliebenes Stück Stoff. Einen Moment starrte sie es unschlüssig an, eigentlich war sie kurz davor, Maschine und Garnröllchen zum Fenster hinaus zu werfen, aber, Verschwendung war ihr fremd – und außerdem kam ihr ein wahrhaft grandioser Gedanke, wie sie den Rest verwerten konnte.

      „In jedes Meer gehört eine Meerjungfrau,“ behauptete sie und nähte ein grünes Hemdchen für Marie.

      Elmar, gelernter Elektriker und auch sonst handwerklich hoch begabt, hatte Schienen an die Decke gedübelt, das Ganze mit Motor und Fernbedienung versehen und die Lämpchen an die Wände montiert.

      Von dem Moment an, da Marie als Nixe in ihre eigene Unterwasserwelt eintauchen konnte, war ihre Lieblingsfarbe Grün. So mussten, passend zum Gewand, grüne Pantoffeln aufgetrieben werden, was Frau Thanner im zwölften Schuhgeschäft tatsächlich gelang, und auf Maries Geburtstags-Wunschzettel stand: Glasperlenkette, grün – wobei das Wort ‚grün‘ mehrmals unterstrichen war. Selbst Barbie musste ihre Garderobe und ihren Lidschatten auf grün umstellen. Die Schulhefteinschläge wurden mit maritimen Motiven beklebt und im Zeichenunterricht malte sie exotische Tiefseefische mit furchterregenden Zähnen und Lämpchen vor der Stirn, deren Namen nicht einmal ihre Lehrerin kannte.

      „Wenn das so weitergeht, wird Marie Meeresbiologin oder Tiefseetaucher,“ stellte Herr Thanner eines Tages fest.

      „Oder Herings-Fischer,“ fügte Thilo hinzu.

      „Oh mein Gott, dass du mir das ja nicht in ihrer Gegenwart erwähnst, sie macht blind alles, was du sagst.“

      Thilo versprach es und dachte über das, was sein Vater beobachtet hatte, nach – ja, es war was dran. Marie liebte ihren Bruder sehr, das war unübersehbar, sogar für Thilo. Obwohl sie inzwischen etwas weniger plapperte und sich öfter und länger in ihrem eigenen Zimmer aufhielt, dachte sie sich immer wieder kleine Beweise ihrer Zuneigung aus: Mal saß eines ihrer Plüschtiere auf seinem Bett, natürlich nur leihweise für eine Nacht. Oder sie machte ihm zum Mittagessen eine Tasse Kakao, den er trotz der vielen Knubbel darin hinunterschluckte. Je nach Jahreszeit wurde auch weiterhin das Schnapsglas als Blumenvase für Kleeblätter oder Butterblümchen benutzt. Wenn er mit ihr redete, hörte sie aufmerksam zu, denn sie zweifelte nicht daran, dass er der klügste Bruder auf der Welt war. Thilo war nicht ganz sicher, wie er das finden sollte, weil er sich vor ihrer Anhänglichkeit fast fürchtete. Nicht, dass er Marie nicht mochte, im Gegenteil, ab und zu war es recht lustig mit ihr. Aber stets blieb eine gewisse Scheu vor zu viel Geselligkeit, vor zu großer Nähe. Ja, er übte Einfluss auf sie aus – und diese Erkenntnis

      führte