Clochard Raade

Das wundersame Leben des Justin Hoppa


Скачать книгу

dass selbst der Himmel sie auf lange Sicht aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte, befand sich neben einer Gemeindeverwaltung, einer Schule und einer Kirche, auch ein ein Armenhaus. In diesem wurde an einem recht kühlem Tag, es war der letzte Tag des Monats Januar, ein Wesen geboren, dessen Namen in der folgenden Geschichte recht häufig genannt werden wird. Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Zuerst einmal war das Kind offensichtlich viel zu früh dran. Es hätte sicherlich noch einige Wochen an dem Ort verbringen müssen, der ihm bis dahin Wärme, Schutz und Nahrung gewährt hatte. Daher fiel es den Beteiligten zunächst ungemein schwer, Justin zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen. Sicherlich ist das Atmen kurz nach der Geburt eine schwere Arbeit. Jedoch ist die Gewohnheit des Atmens zu unserm Wohlbefinden von Natur aus notwendig. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, in einer kleinen Schachtel, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Justin damals in die Obhut der modernen Medizin hinein geboren worden, so wäre er unzweifelhaft dem Tode anheim gefallen. So aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Alkoholgenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten musste. Justin hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, dass Justin nach einigen Anstrengungen atmete, laut nieste und endlich in der Lage war, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde der Gemeinde durch so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß. Auf das Geschrei des Kindes hin, erhob sich das bleiche Gesicht einer jungen Frau mit Mühe von den Kissen und eine schwache Stimme flüsterte kaum vernehmbar: "lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben."

      Der Arzt saß vor dem Kamin und war bemüht, seine Hände bald durch Reiben, bald durch Ausstrecken über die Kohlen warm zu halten; als aber die junge Frau sprach, stand er auf, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit, als man ihm zugetraut hätte: "Oh! Sie müssen nicht vom Sterben sprechen!"

      Die junge Frau streckte ihre zitternde Hand nach ihrem Kind aus, und der Arzt legte es ihr in die Arme. Sie küsste es leidenschaftlich auf die Stirn, dann fuhr sie mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild um sich, schauderte, sank zurück - und starb.

      "Sie hat es ausgestanden", sagte der Arzt nach einer kurzen Untersuchung zu der alten Frau. "Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit, wahrscheinlich wird es etwas unruhig sein." Er zog bedächtig seine Handschuhe an.

      "Ihr könnt ihm dann ein wenig Milchschleim geben."

      Er setzte den Hut auf und trat, bevor er das Zimmer verließ, noch einmal ans Bett und sagte:

      "Es war ein hübsches Mädchen; woher kam sie?"

      "Sie wurde gestern Abend auf Anordnung des Armenvorstehers hier eingeliefert", antwortete die alte Frau.

      "Man fand sie auf der Straße ohnmächtig; sie muss weit gelaufen sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen, jedoch, woher sie kam oder wohin sie wollte, weiß niemand."

      Der Arzt beugte sich über die Verblichene und hob ihre linke Hand hoch.

      "Ich sehe schon, es ist die alte Geschichte", sagte er kopfschüttelnd, "kein Trauring. Na! Gute Nacht!"

      Er ging zu seinem Abendessen, und die alte Frau setzte sich auf einen Schemel in der Nähe des Kamins und begann das Kind zu kleiden. In der Decke, die Justin bisher umhüllt hatte, konnte man ihn ebenso für das Kind eines Edelmannes als für das eines Bettlers halten. Aber jetzt in dem alten verwaschenen Kinderzeug, das durch wohlwollende Spenden in den Besitz des Armenhauses gelangt war, trug er die Zeichen seiner Stellung, nämlich die eines Gemeindekindes, einer Waise des Armenhauses, einer Kostenstelle der Gemeinde, einer zum Hungern bestimmten Last, die von allen verachtet und von niemand bemitleidet und erst recht nicht geliebt wurde. Justin schrie laut und kräftig; hätte er gewusst, dass er eine Waise, und somit der lieblosen Fürsorge von Armen- und Gemeindevorstehern ausgeliefert war, so hätte er sicherlich noch lauter geschrien.

      Wie Justin Hoppa heranwuchs

      In den ersten acht oder zehn Monaten war Justin das Opfer eines systematischen Betrugs und fortgesetzter Gaunerei. Er wurde nämlich auf Kosten der Gemeinde aufgepäppelt. Die Armenhausbehörde meldete den elenden Zustand des Waisenkindes pflichtbewusst an den Gemeindevorstand. Dieser forderte einen Bericht darüber, ob sich "in dem Hause" keine Frau befände, die in der Lage sei, dem kleinen Justin Hoppa die Nahrung zu reichen, deren er bedurfte. Die wahrheitswidrige Antwort der Armenhausbehörde fiel verneinend aus, worauf der Gemeindevorstand den hochherzigen Entschluss fasste, Justin in einer fünf Kilometer entfernten Filiale des Armenhauses unterzubringen. Dort wuchsen unter der mütterlichen Aufsicht einer älteren Frau zwanzig bis dreißig andere jugendliche Übertreter der Armengesetze auf, ohne das die Gemeinde von den Kosten für Kleidung und Nahrung allzu sehr belästigt zu wurde. Die Matrone nahm die kleinen Verbrecher gegen eine Entschädigung von wöchentlich zehn Schilling und einem halben Pence pro Kopf auf. Damit lässt sich ein Kind recht gut ernähren. Der Betrag reicht sogar aus, einen Magen zu überladen. Doch nur den der Matrone. Die alte Dame war eine kluge und erfahrene Frau, sie wusste, was für Kinder - und noch mehr, was für sie selber gut war. Sie verwendete den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Nutzen und setzte die heranwachsende Jugend auf noch kleinere Rationen, als von der Behörde beabsichtigt war.

      Jedermann kennt die Geschichte eines praktischen Lebenskünstlers, der eine herrliche Theorie erfunden hatte, gänzlich ohne Nahrung zu leben. Der Versuch gelang so weit, dass er seine eigene Ernährung auf einen Löffel Honig am Tag herunterbrachte. Sicherlich wäre er irgendwann ein gefragter Mann gewesen, wenn er nicht vierundzwanzig Stunden vor dem Tage krepiert wäre, wo er sich zum ersten Male ausschließlich von Wasser und Luft ernähren wollte. Unglücklicherweise hatte das System der Frau, deren Fürsorge Justin Hoppa anvertraut war, gewöhnlich einen ähnlichen Erfolg. Gerade wenn ein Kind so weit gekommen war, von dem kleinstmöglichen Teile der möglichst schwächsten Nahrung zu leben, so kam es acht-, bis neunmal in zehn Fällen vor, dass es erkrankte, und im Krankenhaus wieder zu Kräften gefüttert werden musste. Halbwegs am Leben, wurde es dann wieder an die Matrone ausgeliefert. Jedoch kam es nicht selten vor, dass eines der bedauernswerten kleinen Wesen auf Grund der schäbigen Behandlung in eine andere, bessere Welt abgerufen wurde. Peinliche Untersuchungen durch die Gemeinde gab es aus verständlichen Gründen nicht. Man stellte lediglich erfreut fest, dass wieder eine Kostenstelle gestrichen werden konnte. Man kann nicht erwarten, dass diese Erziehungsmethode glänzende Ergebnisse zeigte. Justin Hoppa war an seinem neunten Geburtstag ein blasses, schmächtiges, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Aber Natur oder Vererbung hatte in seine Brust einen gesunden, kräftigen Geist gepflanzt, der auch, dank der spärlichen Diät der Anstalt hinreichend Raum hatte, sich auszudehnen. Vielleicht ist es nur diesem Umstand zuzuschreiben, dass er sich überhaupt seines neunten Geburtstages erfreuen durfte. Er feierte denselben in der erlesenen Gesellschaft zweier anderen jungen Herren im Kohlenkeller, wo sie nach einer tüchtigen Tracht Schläge eingesperrt worden waren, weil sie sich erdreistet hatten, hungrig zu sein. An diesem Tage wurde Frau Billig, die würdige Vorsteherin der Anstalt durch die unerwartete Erscheinung des Gemeindedieners, Herrn Braun, in Schrecken gesetzt. Er bemühte sich gerade, die Gartentür zu öffnen.

      "Herr du meine Güte! Sind Sie es, Herr Braun?" rief Frau Billig, indem sie ihren Kopf aus dem Fenster steckte, anscheinend hocherfreut dem Kirchendiener zu.

      "Leyla, hole rasch den Justin und die beiden anderen Rangen aus dem Keller und wasche sie. - Ach, wie mich das freut, Herr Braun. Freue mich wirklich, Sie mal wiederzusehen"

      Herr Braun war ein dicker und außerdem jähzorniger Mann und anstatt die freundliche Begrüßung zu erwidern, gab er der Gartentür einen Stoß, wie ihn nur der Fuß eines Gemeindedieners zu geben imstande ist.

      "Mein Gott", sagte Frau Billig hinaus eilend - denn die drei Jungen waren inzwischen aus dem Keller geholt worden - "dass ich das vergessen konnte. Der lieben Kinder wegen hatte ich ja die Tür verriegelt. Treten Sie

      näher,