Charles Dickens

Oliver Twist


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nicht, Bumble, und sagen Sie auch Sowerberry, er solle in Zukunft strenge mit ihm verfahren.»

      «Ich werde alles zu Ihrer vollen Zufriedenheit besorgen, Sir!» erwiderte Bumble, indem er sich zusammen mit Noah auf den Weg machte.

      Als sie an ihrem Bestimmungsorte anlangten, war die Lage der Dinge dort unverändert. Sowerberry war noch nicht zurückgekehrt, und Oliver schlug fortwährend mit unverminderter Heftigkeit an die Kellertür. Mr. Bumble donnerte mit seinem Fuße von außen an die Tür, um sein Kommen anzuzeigen, legte dann seinen Mund ans Schlüsselloch und sagte in tiefem, eindringlichem Tone: «Oliver.»

      «Laßt mich hinaus!» rief Oliver von innen.

      «Kennst du meine Stimme, Oliver?»

      «Ja!»

      «Fürchtest du dich nicht – zitterst du nicht bei meiner Nähe?»

      «Nein!»

      Bumble war starr vor Erstaunen.

      «Er muß verrückt geworden sein!» bemerkte Mrs. Sowerberry.

      «'s ist keine Verrücktheit, Ma'am,» sagte Bumble, «'s ist das Fleisch!»

      «Das Fleisch?!»

      «Ja, ja, Ma'am! Sie haben ihn überfüttert, Ma'am. Hätten Sie ihm nichts als Haferbrei gegeben, so würde er nimmermehr so geworden sein.»

      Mrs. Sowerberry machte sich wegen ihrer Gutherzigkeit und Freigebigkeit die bittersten Vorwürfe, so unschuldig in Gedanken, Worten und Werken sie auch war.

      Bumble erklärte, daß nur Einsperren und sodann strenge Diät den rebellischen Sinn des kleinen Galgenstricks würden bändigen können. In diesem Augenblick kehrte Sowerberry zurück, dem sofort der Vorfall mit solchen Übertreibungen erzählt wurde, daß er die Tür öffnete, den Knaben beim Kragen faßte und herauszog.

      Olivers Kleider waren zerrissen, sein Gesicht war verschwollen und zerkratzt, und sein Haar hing ihm wirr über die Stirn herab. Die zornige Röte war jedoch aus seinem Gesicht nicht verschwunden, und als er aus seinem Gefängnis gezogen wurde, warf er Noah einen drohenden Blick zu.

      «Nun, du bist ja ein netter Bursche», sagte Sowerberry, schüttelte Oliver derb und gab ihm rechts und links ein paar Ohrfeigen.

      «Er beschimpfte meine Mutter», sagte Oliver.

      «Und wenn er das auch tat, du undankbarer Bösewicht», versetzte Mrs. Sowerberry. «Sie hat's verdient, was er von ihr gesagt hat, und noch viel mehr.»

      «Nein, nein!» rief Oliver. «'s ist eine Lüge!»

      Mrs. Sowerberry brach in eine Tränenflut aus, und dies ließ ihrem Gatten keine Wahl. Denn wenn er nicht auf der Stelle Oliver nachdrücklich gezüchtigt hätte, so würde er sich, gemäß allen Ehezänkereiregeln, als eine Nachtmütze, ein liebloser Ehemann, ein Ungeheuer gezeigt haben. So ungern er es daher auch tun mochte, er züchtigte Oliver dermaßen, daß die nachträgliche Anwendung des Rohrs Mr. Bumbles jedenfalls sehr unnötig war. Oliver wurde darauf bei Wasser und Brot wieder eingesperrt und spät abends unter Noahs unbarmherzigem Gespött zu Bett gewiesen.

      Erst hier ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte allen Spott und Hohn mit hartnäckiger Verachtung, die schmerzlichsten Streiche ohne Schrei ertragen und würde nicht geweint haben, wenn man ihn lebendig geröstet hätte; ein solcher Stolz war in seiner Brust erwacht. Nun aber, da er allein und gänzlich sich selber überlassen war, fiel er auf die Knie nieder, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte solche Tränen, wie Gott sie den Betrübten und Geängsteten zur Erleichterung ihres Herzens sendet, wie nur wenige menschliche Wesen, so jung an Jahren wie Oliver, sie zu vergießen Ursache hatten.

      Es währte lange, bevor er sich wieder erhob. Das Licht war tief heruntergebrannt, er horchte und blickte vorsichtig umher, öffnete leise die Tür und sah hinaus. Die Nacht war finster und kalt. Die Sterne schienen ihm weiter von der Erde entfernt zu sein, als er sie je gesehen; die Bäume, von keinem Winde bewegt, standen wie Geister da. Er verschloß die Tür wieder, knüpfte seine wenigen Habseligkeiten in ein Taschentuch und setzte sich auf eine Bank, um den Anbruch des Tages zu erwarten.

      Mit dem ersten durch die Ritzen der Fensterladen eindringenden Lichtstrahle stand er auf, öffnete die Tür zum zweiten Male, blickte furchtsam umher, zögerte ein paar Augenblicke, trat hinaus und ging, ungewiß, wohin er sich wenden sollte, rasch vorwärts. Nach einiger Zeit gewahrte er, daß er sich ganz in der Nähe der Anstalt befände, in der er seine ersten Kinderjahre verlebt hatte. Es war niemand zu hören oder zu sehen; er blickte in den Garten hinein. Einer seiner kleinen, weit jüngeren Spielkameraden reinigte ein Beet vom Unkraut. Sie hatten miteinander gar oft Hunger, Schläge und Einsperrung erduldet.

      «Pst! Dick!» rief Oliver.

      Der Knabe lief herbei und streckte ihm die abgemagerten Hände durch die Gittertür entgegen.

      «Ist schon jemand auf, Dick?»

      «Keiner als ich.»

      «Sag' ja nicht, daß du mich gesehen hast, Dick; ich bin fortgelaufen; konnt's nicht mehr aushalten und will mein Glück in der Welt versuchen. Ich muß weit fort von hier; weiß nicht, wohin. Wie blaß du aussiehst!»

      «Ich habe den Doktor sagen hören, daß ich sterben müßte. Ach, das ist schön, daß du hier bist! Aber halt dich nicht auf; lauf fort!»

      «Ja, ja, leb wohl! Ich weiß gewiß, wir sehen uns wieder, Dick. Du wirst noch recht glücklich werden.»

      «Das hoff' ich – wenn ich tot bin; eher nicht. Ich weiß es, Oliver, der Doktor hat recht; denn ich träume so viel vom Himmel und von Engeln und freundlichen Gesichtern, die ich niemals sehe, wenn ich aufwache. Leb wohl, Oliver; geh mit Gott! Gottes Segen begleite dich!»

      Oliver hatte noch nie des Himmels Segen auf sich herabrufen hören, und nie vergaß er diese Segnung von den Lippen eines Kindes unter allen Leiden, Sorgen, Mühen, Kämpfen und Wechselschicksalen seines Lebens.

      8. Kapitel.

      Oliver geht nach London und trifft mit einem absonderlichen jungen Gentleman zusammen.

      Oliver lief ohne Rast und Ruhe, bis er um die Mittagsstunde bei einem Meilensteine stillstand, auf dem die Entfernung Londons angegeben war. Dort konnte man ihn nicht finden, er hatte oft sagen hören, daß die unermeßliche Stadt zahllose Mittel zum Fortkommen darböte, sein Entschluß war gefaßt; er machte sich bald wieder auf den Weg und gedachte nun erst der Schwierigkeiten, die er zu überwinden haben würde, um an sein Ziel zu gelangen. Er hatte ein grobes Hemd, zwei Paar Strümpfe, eine Brotrinde und einen Penny in seinem Bündel – ein Geschenk Mr. Sowerberrys nach einem Begräbnisse, bei welchem er sich dessen ungewöhnliche Zufriedenheit verdient hatte. Er sann vergeblich darüber nach, wie er mit so geringen Mitteln London erreichen solle – und trabte weiter.

      Nachdem er zwanzig Meilen zurückgelegt hatte, lenkte er auf eine Wiese ein und legte sich in einem Heuhaufen zur Ruhe nieder. Er machte am zweiten Tage abermals zwölf Meilen, verwendete seinen Penny für Brot, übernachtete auf ähnliche Weise und erhob sich am dritten Morgen fast erfroren und mit erstarrten Gliedern, so daß er sich kaum von der Stelle bewegen konnte.

      Die Straße wand sich hier einen ziemlich steilen Hügel hinauf, und er flehte die Außenpassagiere einer Postkutsche um eine Gabe an. Nur einer beachtete ihn, rief ihm zu, er möge warten, bis man oben angelangt wäre, und begehrte darauf zu erfahren, wie weit er um einen halben Penny mitlaufen könne. Oliver mußte nach der größten Anstrengung doch bald zurückbleiben, und der Mildtätige steckte sein Geldstück wieder in die Tasche und erklärte ihn für einen faulen Schlingel, der keine Freigebigkeit verdiene. Dahin rollte die Postkutsche und ließ nur eine Staubwolke zurück.

      In manchen Dörfern waren Pfosten mit Tafeln errichtet, auf welchen scharfe Drohungen gegen alle Bettler zu lesen waren, und Oliver eilte furchtsam weiter; in anderen, wenn er etwa vor einem Gasthause mit sehnsüchtigen Blicken stillstand, hieß man ihn sich davonmachen, wenn er nicht als ein Dieb eingesperrt