in seinen Romanen immer mehr die Komposition, auf langatmige Schilderungen folgen knappe dramatische Evolutionen und spannende Konflikte, die zu einem plötzlichen Abschluß drängen. Besonders charakteristisch ist in dieser Beziehung der vierbändige Roman «Our mutual friend», aber auch «Bleakhouse» und «Tale of two cities», wo die französische Revolution den Hintergrund bildet, lassen die Einheitlichkeit des Plans vermissen.
Charles Dickens war während seines ganzen Lebens von einem Arbeitseifer, der weder Rast noch Ruh kennt, beseelt. Während er seine großen Romane schrieb, war er im Nebenfach als Journalist und Redakteur tätig. Im Jahre 1845 trat er in die Redaktion der neubegründeten Zeitung «Daily News», die auch seine italienischen Reisebilder zuerst veröffentlichte, ein. 1849 gab er eine Wochenschrift «Household Words», die der Unterhaltung und Belehrung diente, heraus. Daneben fand er Zeit zu Vortragsreisen in England, Irland und Amerika, die ihm Reichtümer und hohe Ehrungen einbrachten, aber auch die mittelbare Ursache zu seinem plötzlichen Tode wurden. Er starb, vom Schlage getroffen, nach kurzem Krankenlager auf seinem Landsitz Gadshill, am 9. Juli 1870 im Alter von 58 Jahren. Seine Gebeine wurden in der Westminsterabtei, dem Pantheon Englands, beigesetzt.
Wenden wir uns nunmehr der in diesem Bande veröffentlichten Erzählung «Oliver Twist» zu, so werden wir die Vorzüge und Schwächen Dickensscher Erzählungskunst gerade an diesem Werke höchst eindringlich wahrnehmen können. Oliver Twist ist Dickens hervorragendstes Jugendwerk und behandelt die Geschichte einer Jugend. Zweifellos haben eigene Jugendeindrücke dem Dichter die Direktive zu dieser Arbeit gegeben. Wie der kleine Oliver, so hat auch Dickens, zwar unter anderen Verhältnissen, aber ebenso mühselig, sich emporringen müssen. Das Leben hatte den Dichter schon in zarter Jugend hart angepackt, aber wie das Gold sich im Feuer läutert, so läutert sich die Seele im Lebenskampf, der Schmutz haftet nur dem Schmutzigen an, wer gesund und rein empfindet, muß schließlich alle Widerwärtigkeiten des Lebens überwinden. Das ist der Leitgedanke in Oliver Twist. Höchst drastische Bilder läßt der Dichter vor unserem geistigen Auge entstehen, scharf zugespitzte Situationen schildert er mit einer Anschaulichkeit, die uns um das Schicksal des jugendlichen Helden mit banger Sorge erfüllt. Wir empfinden und fühlen mit Oliver Twist, wir fürchten gar um sein Leben und zittern um sein Seelenheil. Oftmals hat es den Anschein, als müsse die Katastrophe jäh über ihn hereinbrechen, aber immer wieder entwirren sich die verworrenen Schicksalsfäden, bis ihm endlich die Erlösung aus unwürdigen Zuständen, in die er ohne seine Schuld geraten ist, wird.
Wenn man den moralischen Maßstab an eine dichterische Arbeit anlegen will, so vollzieht sich in «Oliver Twist» alles ganz folgerichtig: die Tugend muß schließlich siegen, denn so will es die moralische Weltordnung. Vom literarischen Gesichtspunkt betrachtet, ließe sich allerdings mancherlei gegen den Optimismus Dickens einwenden; man merkt gar zu schnell die moralisierende Absicht und wird verstimmt. Dagegen kann Dickens als Zustandsschilderer auch hier vor jeder literarischen Kritik bestehen. Wie anschaulich sind allein die Verbrecherschlupfwinkel geschildert! Wie überzeugend die Örtlichkeiten des dunkelsten Londons! Man gewinnt hier überall den Eindruck des Selbstgeschauten. Dickens bedient sich zur Erreichung seines Zwecks oft ungewöhnlicher Mittel und verblüffender Wendungen. Er konstruiert die unwahrscheinlichsten Situationen und nimmt es auch mit den Tatsachen nicht so genau, um eine Kontrastwirkung zu erzielen. Einzelne Begebenheiten streifen fast das Niveau des Kolportageromans, während andere den Eindruck höchster Künstlerschaft auf den Leser machen.
«Oliver Twist» ist eine Arbeit, die nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen geschrieben ist. Es ist der Roman des Kindes, vielleicht der erste dieser Art in der neueren Literatur. Der maßlose Jammer der ausgesetzten und verlassenen Kinder, von denen es im heutigen London noch hunderte und aberhunderte gibt, hat den Dichter angeregt zu einer Arbeit, die ein Appell an die Welt zur Abhilfe der verrotteten Zustände sein soll. Wir leben im «Jahrhundert des Kindes»! Männer und Frauen aller Kreise haben zusammengewirkt, um eine Hebung des sittlichen Niveaus, aber auch der materiellen Lage der Kinder der Ärmsten zu erzielen. Der Dichter des «Oliver Twist» verdient als Vorläufer dieser Bewegung bezeichnet zu werden. Menschengüte und Kinderliebe sprechen aus jeder Zeile des Buches; ohne diese Qualitäten hätte es schwerlich seinen Platz in der Weltliteratur behauptet.
Von dem feinen Verständnis der Kinderseele und den Bedürfnissen des Kindes legt neben «Oliver Twist» auch Dickens «A child's history of England» ein glänzendes Zeugnis ab. In einer, den Anschauungskreis des Kindes angemessenen Form schildert Dickens hier die Hauptereignisse der englischen Geschichte mit höchster Eindringlichkeit und Wahrhaftigkeit, aber auch zugleich frei von jeder aufdringlichen chauvinistischen Tendenz. Das Buch, das in England und Amerika zu den meistgelesenen Büchern zählt, hat bei uns bei weitem nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden, obgleich wir in der geschichtlichen Jugendliteratur ihm nichts Ebenbürtiges zur Seite stellen können.
Charles Dickens hat in England viele Nachahmer gefunden, aber niemand hat ihn, dem das Schreiben eine sittliche Aufgabe war, auch nur im entferntesten erreicht. Seine Nachahmer haben ihn eigentlich nur in der Breite der Anlage und der Umständlichkeit der Schilderung getroffen, nicht aber in der Eindringlichkeit seines Vortrags und in der Überzeugungskraft, mit der er seine Tendenz verficht. Bald wird ein halbes Jahrhundert seit seinem Tode verflossen sein, die englische Familienblattliteratur hat inzwischen hunderttausende von Neuerscheinungen auf den Markt geworfen, aber doch ist Dickens der Dichter des Volkes geblieben. Von den großen Humoristen des vorigen Jahrhunderts kann ihm nur einer als gleichwertig zur Seite gestellt werden: unser Fritz Reuter, der ja auch wie Dickens in einer harten Schule der Entbehrungen zum Dichter und Menschenfreund herangewachsen ist. Sie liebten beide das Volk, weil sie es als echte Söhne des Volkes genau kannten, und sie haben beide dadurch, daß sie die erbärmliche Alltäglichkeit mit echter Poesie und echtem Humor durchtränkt haben, Millionen entzückt und mit dem Leben versöhnt. Wer das zuwege bringt, ist ein Wohltäter der Menschheit. In diesem Sinne hat sich einer der größten Staatsmänner Englands, Gladstone, über Dickens geäußert; auch er feierte ihn als einen Erzieher und Wohltäter seines Volkes. Charles Dickens wird daher, mag er einer strengen literarischen Kritik auch nicht immer standhalten, mag er selbst als Menschenschilderer überholt worden sein, dennoch weiterleben und noch viele Generationen durch seinen köstlichen Humor entzücken und begeistern.
Johannes Gaulke.
1. Kapitel.
Handelt von dem Orte, an dem Oliver Twist geboren wurde, und von den seine Geburt begleitenden Umständen.
Eine Stadt, die ich aus gewissen Gründen nicht näher bezeichnen will, der ich aber auch keinen erdichteten Namen beilegen möchte, besitzt unter anderen öffentlichen Gebäuden gleich den meisten anderen Städten, sie mögen groß oder klein sein, von alters her ein Armenhaus, und in diesem wurde an einem Tage, dessen genaues Datum für den Leser kein besonderes Interesse hat, das Mitglied der sterblichen Menschheit geboren, dessen Name in der Überschrift dieses Kapitels angegeben ist.
Lange Zeit, nachdem der Wundarzt des Kirchspiels ihn in diese Welt der Mühen und Sorgen befördert hatte, blieb es äußerst zweifelhaft, ob er lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es war nämlich tatsächlich mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, Oliver dahin zu bringen, daß er sich der Aufgabe, Atem zu holen, selbst unterzog – einem mühsamen Geschäfte, das die Gewohnheit uns aber freilich zu einer notwendigen Lebensbedingung gemacht hat; eine Zeitlang lag er nach Luft schnappend auf einer kleinen Matratze aus Schafwolle und schien sich in der Schwebe zwischen dieser und jener Welt zu befinden, wobei die Wage sich entschieden zugunsten der letzteren neigte. Wenn Oliver während dieser kurzen Zeit von sorglichen Großmüttern, geschäftigen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelahrten Doktoren umgeben gewesen wäre, so würde er natürlich die Stunde nicht überlebt haben, allein es war niemand in seiner Nähe, außer einer alten Frau, die sich infolge des ungewohnten Genusses von Bier in einer etwas angeheiterten Stimmung befand, und dem Kirchspielwundarzte, der die Geburtshilfe kontraktmäßig leistete. Oliver und die Natur fochten also die Sache zwischen sich ganz allein aus, und die Folge davon war, daß nach kurzem Kampfe Oliver atmete, nieste und endlich den Insassen des Armenhauses die Tatsache ankündigte, daß dem Kirchspiele eine neue Last aufgebürdet worden sei, indem er ein so lautes Geschrei erhob, wie man es füglicherweise von einem neugeborenen Knaben