Cory d'Or

Korridorium – ein pluridimensionaler Thriller


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in seinem Büro drückt mir Kommissar Albo, nachdem ich gefühlte zwanzig Papptassen voller bitterem Kaffee auf ihn gewartet habe, die Blätter in die Hand. Das Blut hat dunkelrote Flecken darauf hinterlassen. Ich bin ganz froh, dass die Forensiker jedes einzelne Blatt in eine Plastikhülle gesteckt haben.

      »Es sind fünfzig«, sagt Albo. Er sieht müder aus als sonst, seine dunklen Tränensäcke scheinen noch mehr vom Leid der Welt absorbiert zu haben. »Durchnummeriert.« Er lässt sich auf seinen Drehstuhl fallen. »Sonst haben wir nichts. Täter-DNA, Fingerabdrücke, Fußspuren: Fehlanzeige.« Ich sehe die Blätter durch. Maschinegeschriebenes. Kurze Texte. Geschichten. Kein Bekennerbrief allem Anschein nach. Auch keine Liebesbriefe. »Das Herz?«, frage ich.

      Albo greift nach seinem Handy, als habe es gerade vibriert. Aber er muss sich getäuscht haben, steckt es mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln wieder weg. »Das Herz, ja. Das Opfer ist männlich, dem Blut nach. Vom Rest keine Spur.«

      Ich stehe auf und winke mit dem Blätterstapel: »Guck ich mir zuhause mal näher an.« Albo sieht mich an, als hätte ich gerade mein Jackett geöffnet und ihm einen Sprengstoffgürtel präsentiert: »Die kannst du nicht mitnehmen. Hast du sie noch alle? Das ist wichtiges Beweismaterial.« Ich mache die drei Schritte zum Kopierer und hebe den Deckel hoch. Der Schnelleinzug nützt mir hier nichts, mit dem Plastik um die Blätter. Albo sieht aus, als wolle er protestieren. Grünes Leuchten fährt unter dem Deckel entlang. Kann das Kopiererlicht irgendwelche Spuren vernichten? Albo scheint zu dem Ergebnis zu kommen, dass das eher unwahrscheinlich ist. Er sackt wieder auf seinen Stuhl zurück. Dass wir es mit einer kranken Psyche zu tun haben, muss er gleich gespürt haben. Sonst wär ich jetzt nicht hier.

      Ich lege das zweite Blatt auf. Auf dem ersten, das ich zur Seite lege, ist jede Menge eingetrocknetes Blut, das auf der Kopie hässliche schwarze Kontinente hinterlassen hat, ähnlich der Tintenkleckse für einen Rorschachtest. Die Flecke umfließen den Text mit der Nummer 1 auf dem Blatt. Es ist nur ein einziger Satz. Er lautet: »Ich betrete den Korridor …«

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       13.11.2011

      Ich betrete den Korridor. Du läufst mir lachend und mit offenen Armen entgegen. Ardinea! Ich erkenne dich an der wilden Farbe deiner Augen.

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       17.11.2011

      Ich betrete den Korridor, falls man das so sagen kann, denn eigentlich skype ich nur, und es ist mein Gesprächspartner, der mit seinem Laptop auf dem Arm den Korridor betritt, um mich mit ins Studio zu nehmen. »Uraniborg« heißt es, und ihn soll ich Tycho nennen, was gut zusammenpasst, denn die sogenannte »Himmelsfeste« war einst die Forschungsstation des dänischen Astronomen Tycho Brahe.

      Dieser Tycho jedoch ist Musiker, und genau darum geht es mir auch: um Musik für meine Texte. Obwohl ich ihn gerade nicht sehe, weil die Webcam mir wackelnde Bilder des Korridors zum Studio zeigt, wiederhole ich zur Vorsicht noch einmal, was ich Tycho schon in meiner E-Mail geschrieben hatte, in das Mikro meines Headsets: »Ich kann euch allerdings nichts dafür zahlen.«

      »Hast du ja schon geschrieben«, sagt er und öffnet eine schallgedämmte Tür. Ich hatte Synthesizerburgen und einen Haufen Instrumente erwartet. Aber der große, helle Raum mit Panoramafenstern in den Garten enthält neben einer von Klangschalen unterschiedlicher Größe umstandenen Liege nicht viel mehr als ein Keyboard. Dieses lässt sich unter dem Schreibtisch, vor dem ein Klavierhocker steht, offenbar herausziehen. Den zahlreichen Kabeln auf dem Tisch entnehme ich, dass hier ein Computer angeschlossen wird – vermutlich nimmt Tycho dafür sonst den, mit dem er mich gerade herumträgt.

      »Willkommen in Uraniborg«, sagt Tycho. Er stellt den Laptop auf dem Tisch ab und verdeckt mit seinem Gesicht die Klangschalenkonstruktion.

      »Was ist das für eine Liege hinter dir? Ist das für eine Klangmassage?«, frage ich neugierig.

      »Oh, das«, sagt er, »wir experimentieren gerade mit Soundscapes, die der Hautwiderstand desjenigen steuert, der sich in die Liege legt. Sie wird mit Druckluft betrieben.« Tatsächlich erkenne ich hinter ihm zwischen den Klangschalen einen eigenartigen Mechanismus mit Schläuchen und chromglänzenden Kolben.

      »Möchtest du auch mal? Wollen doch mal sehen, was für einen Hautwiderstand der Computer hat …« Das Bild kippt. Tycho setzt sein Laptop auf die Liege. Mit dessen eingebauter Webcam habe ich jetzt einige der Klangschalen im Blick. Der Druckluftperkussionist beginnt zu zischen und zu stampfen und bewegt die Klöppel, und bald umhüllen mich hypnotische Sphärenklänge.

      »Bevor ich hier ganz wegdrifte …«, rufe ich in mein Headset, und da kippt auch schon wieder das Bild, und Tycho setzt mich, nachdem er die Pressluftmaschinerie abgeschaltet hat, wieder auf den Tisch. Auch er stülpt sich jetzt ein Headset auf. Die Klangschalen hinter ihm hallen noch lange nach.

      »Wie bist du auf mich gekommen?«, fragt er neugierig. »Warst du auf einem meiner Schlafkonzerte?«

      Ich schüttle den Kopf: »Noch nicht. Ich hab ein paar Tracks von euch im Internet gehört und dachte …« Ja, was hab ich mir eigentlich dabei gedacht?

      »Du willst eine Reihe von Texten veröffentlichen und hättest gern jeweils einen kleinen Soundtrack dazu. Hab ich das richtig verstanden?«

      »Genau«, sage ich.

      Ich hatte schon in der E-Mail ein bisschen von mir erzählt: Dass ich im Bauamt einer kleinen Stadt in den neuen Bundesländern arbeite, da wenig zu tun habe, aber beschäftigt wirken will, weil ich am Gang zu den Toiletten sitze und die Kollegen mich hinter der Glastür gut sehen können, und dass ich angefangen habe, kleine »architektonische« Skizzen in den Computer zu tippen, inspiriert von den Anträgen auf meinem Schreibtisch und den Besichtigungen und Abnahmen, bei denen ich manchmal dabeisein darf.

      Und dass ich Musik brauche für die Veröffentlichung. Viel Musik. Ungewöhnliche Musik. Musik, die Bilder im Kopf macht.

      »Das Labyrinth des Minotaurus«, sagt er nachdenklich.

      »Ja. Ich hab dir ein paar Minotaurus-Fragmente geschickt, weil das doch auch mal Thema eurer Schlafkonzerte war und in der Musik vorkommt. Das verbindet uns sozusagen. Am 11. November will ich anfangen.«

      »So bald schon?« Mir rutscht das Herz in die Hose, als er das sagt. Ich bin viel zu spät dran mit meiner Suche nach Musik. Aber kleine Soundtracks zu den Geschichten wären mein Traum, und den will ich nicht so einfach aufgeben.

      »Was macht«, fragt er, »eine junge Frau wie du als Sachbearbeiterin im Bauamt?«

      »Ich hab in Leipzig Geschichte und Orientwissenschaften studiert, aber als Historikerin nichts gefunden. Tja und da … Jedenfalls dürfen meine Kollegen nichts von meinen literarischen Ambitionen wissen.«

      Tycho lächelt ein wenig spitzbübisch: »Ich verrat keinem was. Wie viele Texte liegen denn schon vor?«

      »Einen ersten Schwung habe ich schon, und ich will immer mindestens drei, vier im Voraus fertig haben. Was die Zuordnung der Musik angeht, würde ich euch völlig freie Hand lassen. Es sollen insgesamt knapp, äh, vierhundert werden.«

      Er zuckt bei der Zahl nicht zusammen. Schon mal gut.

      »Ich weiß«, fahre ich hastig fort, »dass es urst viel verlangt ist, aber …« Tycho unterbricht mich: »Kein Problem. Wir haben massig Material im Archiv, alles unveröffentlicht. Aber es sind schräge Sachen dabei.«

      »Find ich super«, sage ich.

      Tycho muss bei so viel Enthusiasmus grinsen: »Das wären dann Drones, Soundscapes, kompositorische Skizzen, Studio-Sessions, Field Recordings, psychoaktive Klangexperimente …«

      »Na, das klingt doch alles ganz schau! Was die jeweilige Dauer betrifft, hab ich gedacht, die Musik sollte immer in etwa so lange dauern, wie man zum lauten Lesen braucht, also so zwischen sieben Sekunden und sieben Minuten.«

      »Okay.