Georg Schmuecker

Transit Berlin und zurück


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mich von ihm behandeln zu lassen. Er war nicht gerade für Feinfühligkeit und moderne Behandlungsmethoden bekannt. Bevor ich mich entschieden hatte, wurde ich aufgerufen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

      "Deserteure werden wegen Feigheit vor dem Feind standrechtlich erschossen", ging mir seine Stimme durch den Kopf. Also betrat ich das Sprechzimmer. Das Sprechzimmer war nicht sonderlich groß. Es roch leicht nach Desinfektionsmittel. Eine Ecke war als Umkleidekabine mit einem Vorhang abgetrennt. Die Türe war auf der Innenseite mit Tafelfarbe gestrichen und mit Kreide waren verschiedene türkische Worte übersetzt. „Guten Tag“, „Wie geht es Ihnen?“ „Wo haben Sie Schmerzen?

      Die zweite Tür ging auf und Opa kam lächelnd er auf mich zu.

      "Hans, Karl, Josef, Fritz, Gregor, Georg mein Enkel, was kann ich für dich tun?", fragte er mich.

      „Hallo Opa, lernst du türkisch?“, fragte ich ihn.

      Er erklärte mir, dass viele türkische Frauen Angst vor einem deutschen Arzt hätten, aber wenn er dann ein paar Worte türkisch sage, sei das Eis gebrochen.

      „Weshalb bist du denn hier?“

      "Hier, guck mal." Ich streckte ihm meine linke Hand entgegen. Er sah sich das Überbein an, drückte darauf und bat mich, mich hinzusetzen.

      "Leg deine Hand auf die Lehne, dann wollen wir uns das mal genau ansehen.“ Er positionierte meine Hand nochmals auf der Lehne und verschwand hinter meinem Rücken.

      "Viele Ärzte operieren Überbeine heutzutage weg, aber das ist moderner Schnickschnack", sagte er und erschien zu meiner Linken. Im gleichen Moment sauste ein Holzhammer auf mein Überbein nieder. Ein stechender Schmerz fuhr durch meine Hand. Ich zog meine Hand zu mir. Tränen stiegen mir in den Augen, mehr aus Wut über die unangekündigte Behandlung als über den Schmerz, der bereits nachließ.

      "Wenn ich dir gesagt hätte, was ich vorhabe, hättest du die Hand weggezogen. Deshalb muss man sie eigentlich festbinden. Aber so geht es schneller“, sagt er. Er legte den Hammer wieder weg.

      "Jetzt nur noch einmassieren" Er zog meine Hand zu sich und drückte zu allem Überfluss darauf herum. Nach einer gefühlten Stunde, die vermutlich nur einige Minuten dauerte, war das Überbein tatsächlich verschwunden.

      "Was machen eigentlich all die Rentner in deinem Wartezimmer?", fragte ich ihn und erzählte von der Frau mit eigenem Sitzplatz.

      "Die kommen aus dem Altersheim St. Maternus. Nach dem Frühstück gehen sie einkaufen, spazieren oder zum Arzt. Was sollen sie auch sonst machen. Besser als vor dem Fernseher zu hocken. Jeden Tag haben sie etwas anderes. Ich kann oft nicht sagen, ob die Schmerzen, die sie haben, real sind. Dann bekommen sie Placebos verschrieben. Wenn sie die schlucken fühlen sie sich besser. Keine Nebenwirkungen, nur Mehl und Zucker."

      „Na, dann bis Sonntag“ sagte ich und ging.

      Ohne Überbein, aber mit Schmerzen in der Hand verließ ich die Praxis.

      Urlaubsvorbereitung

      Am Sonntagmorgen änderte Opa die Planung und lud sich zu uns zum Kaffee ein. Kurz nach vier parkte er den beige-grauen 200er Mercedes halb schräg auf den Bürgersteig vor unserem Haus. Vielleicht war es mangelnde Übersicht, vielleicht auch Desinteresse, dass er den Bürgersteig größtenteils versperrte.

      Er stieg aus, grüßte unseren Nachbarn, freundlich mit „Guten Tag, Herr Derrick“, und klingelte dann zweimal kurz hintereinander an unserer Haustür. Herr Reddig ging verunsichert weiter.

      „Das ist der Opa, kann wer anderes aufmachen?“, rief meine Schwester Susanne. Sie sprach nicht mehr mit Opa, wegen Frank.

      Ich mochte Frank von Anfang an. Er war witzig, kontaktfreudig und sprühte vor Intelligenz. Ich ahnte gleich, dass er schon bald Susannes neuer Freund sein würde. Er war im Sommer mit seiner Familie in unser Viertel gezogen und ging mit Susanne in die 11. Stufe des Gymnasiums. Eines Tages spielten wir gemeinsam Karten.

      "Rate mal, welche Religion der Frank hat", fragte Susanne.

      "Katholisch" antwortete ich automatisch und legte eine Karte.

      "Es ist die älteste Religion der Welt", sagte Susanne

      "Buddhist?“ versuchte ich und überlegte, wie es weitergehen sollte mit meinem Blatt.

      "Nein, Jude", sagte Susanne in einer Mischung aus Stolz und Begeisterung.

      Ich bekam einen Schreck. Wieso war mir selbst unklar. Es war eine unbestimmte Angst, etwas falsch gemacht zu haben. War es antisemitisch, nicht zu wissen, dass die jüdische die älteste aller monotheistischen Religionen war?

      Frank war der erste Jude, den ich kennenlernte, außer Heinz Galinski, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, einen alten Mann im Fernsehen, der immer einen schwarzen Hut und einen schwarzen Mantel trug und mit griesgrämiger Miene vor Denkmälern gezeigt wurde.

      Mein zweites Gefühl nach dem Schreck, etwas falsch gemacht zu haben, war Verwunderung. Waren die Juden nicht alle umgebracht worden und die Überlebenden in Israel oder Amerika?

      Frank sah meine irritierte Miene und grinste mich an.

      Er kannte das Erstaunen, das seine Religion bei Gleichaltrigen auslöste. Unzählige Male waren wir in der Schule in Deutsch, Geschichte und Sozialwissenschaften, aber auch in Jugendgruppen mit der Judenverfolgung und dem Holocaust konfrontiert worden. In einer Art Dauerberieselung wurden wir mit der Zeit zwischen dem Ende der Weimarer Republik und der Befreiung der Konzentrationslager überhäuft. Biographien, Zeitungsberichte und Fernsehdokumentationen, alles beschäftigte sich in deutscher Gründlichkeit mit KZ´s und ließ die Juden in unserem Weltbild auf Ausschwitz zusammenschrumpfen. Folge war eine nebulöse Scham ein Deutscher zu sein. Obwohl wir getauft waren, wodurch wir nach christlichem Glauben von der Erbsünde befreit sein sollten, waren wir mit der Erbsünde befleckt.

      Mein vermeintliches Wissen als 20-jähriger über Israel konnte ich fast in einem Satz zusammenfassen. Die Juden, die den Holocaust überlebten, sammelten sich in Kibbuzen in Israel, um als hervorragende Kampfpiloten die Araber zu besiegen.

      Plötzlich saß ein Jude vor mir. Wir spielten weiter Karten. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Konnte ich fragen, ob es schwierig war, Jude in Deutschland zu sein? Das Wort Jude kam mir nicht über die Lippen. Ich war mir nicht sicher, ob es beleidigend oder vielleicht rassistisch war, so, als würde man einen Farbigen als Neger bezeichnen. Also spielten wir weiter Karten und seine Religion kam nicht mehr zur Sprache. Frank und Susanne wurden für einige Zeit ein Paar und Frank für einige Jahre ein guter Freund. Ich habe ihn nie etwas gefragt, das mit seiner Religion zu tun hatte. Die Unsicherheit aus der Erbsünde war zu groß.

      Seit Susanne mit Frank zusammen war, akzeptierte sie Opas Rassismus nicht mehr als die peinliche Marotte, als die sie den anderen Enkeln erschien. Sie hatte beschlossen ihn mit Nichtachtung zu strafen.

      Ich lief die Treppe runter und öffnete die Haustür.

      „Bin doch nicht zu spät, oder?“, fragte Opa.

      „Nein, akademisches Viertel. Der Tee ist schon gekocht und der Kuchen steht auch bereit“, antwortete ich.

      „Gut. Hol mal den ADAC-Atlas und einen Textmarker, dann planen wir die Route“, sagte er und setzte sich an den Esszimmertisch.

      Mein jüngerer Bruder Martin begrüßte den Opa, setzte sich zu uns und nahm sich ein Stück Kuchen.

      Ich schlug die Übersichtskarte der Autobahnen auf. An der Route Köln - Berlin gab es nicht viel zu planen.

      „A4 bis Heumarer Dreieck, A3 bis Leverkusener Kreuz, A1 bis Kamener Kreuz und A2!“, sagte ich.

      „Ja, aber welche Grenzübergänge?“, fragte Opa, und kaute energisch den Nusskuchen meiner Mutter.

      „Warte mal. Hier steht Helmstedt. Und der in Berlin heißt Dreilinden“, sagte ich.

      „Gut, zeichne die Route mit dem Marker