Cory d'Or

Korridorium – fraktale Romanzen


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ich finde die Tür nicht. Erst an der Theke mit Tee und Kaffee im Aufenthaltsraum wird mir klar, dass das vermutlich Prinzip gewesen ist: Ich sollte eine Tür suchen, die es gar nicht gibt. Na toll. Was tut man nicht alles für die Wissenschaft!

      Wir Korridoristen – diese Bezeichnung hat sich gleich zu Beginn unter uns durchgesetzt – sind eine bunte Truppe unterschiedlichen Alters und stellen vermutlich einen guten Bevölkerungsdurchschnitt dar. Sogar zwei Rollstuhlfahrer sind mit dabei. Natürlich kommen wir in den Pausen miteinander ins Gespräch. Wer bist du denn, wo kommst du her, was machst du sonst, wie hast du von der Sache hier erfahren? Ich halte mich abseits. Das alles würde ich gerne von Orange-17 erfahren. Aber die gehört nun mal zu der anderen Truppe.

      Kann ich ihr hier eine Nachricht hinterlassen? Wie sollte die aussehen? Ein Zettel an einer der Thermoskannen: »Blau-8 möchte gerne Orange-17 kennenlernen. Sprich mich im Korridor an, wenn du mich auch interessant findest!« Das würden dann natürlich alle lesen, und es käme im Korridor garantiert zu neugierigen Blicken oder gar Ballungen um uns beide herum: Für viele wäre diese Angelegenheit wohl weit interessanter als die Aufgaben, die uns hier so zugesimst werden.

      »Sie wollen möglichst schnell ans andere Ende des Korridors – ohne zu rennen«, heißt es meist. Oder: »Sie schlendern, bleiben vor den Bildern stehen, haben Zeit totzuschlagen, bis Sie das andere Ende des Korridors erreichen.« Oder: »Sie suchen nach einem WC und treten dort ein. Falls besetzt, warten Sie vor der Tür.«

      Der Umbau des Korridors macht diesmal ziemlichen Lärm. Techniker sind mit den Schienenkränen an der Hallendecke und Gabelstaplern dabei, die einzelnen Wandteile zu einer neuen Kombination zusammenzusetzen.

      Mein Handy wiehert. Eine SMS mit der neuen Aufgabe: »Sie sind im Korridor auf der Suche nach Orange-4. Sobald Sie die Person gefunden haben, bezichtigen Sie sie, Ihnen eine Schrottimmobilie verkauft zu haben, und verlangen eine Entschädigung.« Mist. Orange-4 – und nicht Orange-17 mit ihren bezaubernden braunen Locken.

      Diesmal jedoch sehe ich sie im Korridor. Sie kommt mir entgegen, erwidert meinen Blick und lächelt, und ich glaube sogar, sie zuckt bedauernd die Achseln, wie um zu signalisieren, wir können und dürfen uns nicht miteinander unterhalten. Ich kann mich daran nicht lange erfreuen, denn kurz hinter ihr entdecke ich Orange-4. Er will sich offenbar auf keine Diskussion einlassen und flüchtet zwischen die anderen Korridoristen. Ich mache mich an die Verfolgung, aber schon kurz danach ertönt die Hupe. Wir gehen nickend aneinander vorbei, jeder auf dem Weg zu seinem Aufenthaltsraum.

      Meine Chance kommt, als ich bei einem Seitenblick auf das Klemmbrett eines der Forscher eine Liste mit Telefonnummern entdecke. In einem unbedachten Moment identifiziere ich die von Orange-17. Perfekt! Ich verschicke eine SMS: »Zusatzaufgabe: Sie treffen Blau-8, den Sie sehr attraktiv finden, und fragen ihn, ob er nach der Untersuchung noch Zeit hat, um mit Ihnen etwas trinken zu gehen.«

      Natürlich hat sie meinen Trick durchschaut. Der Korridor ist hier verengt, aber sie fragt mich trotzdem, obwohl sie sich sehr zurückhalten muss, um nicht in lautes Lachen auszubrechen. Der Stau, der sich zu beiden Seiten von uns bildet, ist uns egal. Ich nehme ihr freundliches Angebot gerne an: Klar habe ich anschließend Zeit, um mit ihr bei einem Caipirinha über Korridore zu reden oder worüber auch immer sie sich gerne mit mir unterhalten möchte.

      Die Armbinden dürfen wir behalten, und wir legen sie nicht wie alle anderen ab, sondern tragen sie noch im Restaurant und weiter bis tief in die Nacht. Blau-8 und Orange-17. Korridore sind was Tolles!

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       28.9.12

      Ich betrete den Korridor, oder nein, meine Therapeutin hat gesagt, ich soll mich nicht immer gleich identifizieren und schön auf die Trennung zwischen ihm und mir achten, also: Er betritt den Korridor, er, die Lichtgestalt, mein Seelenzwilling, dem die Herzen der Menschen zufliegen, der ihnen Hoffnung macht und unter uns allen Zuversicht verbreitet. Er ist jetzt auf dem Weg auf die Bühne, ich spüre es, ich sehe es förmlich, als sei ich bei ihm, als sei ich er, als blickte ich aus seinen Augen, und tatsächlich sind wir im Grunde eins.

      Er spürt es auch, das weiß ich genau, er spürt es, aber er weiß es nicht. Er spürt die Sehnsucht und ahnt, dass ich ihm ganz nah bin, dass er mir näher und näher kommt, wenn er in wenigen Augenblicken hinaustritt vor sein Publikum, vor die Fernsehkameras.

      Sein Blick wird lächelnd über seine Zuschauer und Fans gleiten – auch über mich, die ich ganz vorne stehe. Irgendwann, eines Tages, wird er mich wiedererkennen, wird es ihm einen Stich ins Herz tun, und er wird sich erinnern, dass ich immer da war, immer, bei jedem seiner Auftritte, aus der ersten Reihe zu ihm aufschaute, und er wird wissen, dass wir zusammengehören, dass wir Seelengefährten sind seit Anbeginn der Zeit, uns hier endlich wiedergefunden haben und von nun an nicht mehr auseinandergehen.

      Wir werden uns in die Arme schließen. Worte werden überflüssig sein. Wir lassen unsere äonenalte Sehnsucht und unsere universumsweiten Gefühle zueinander sprechen, und mein Messer wird dafür sorgen, dass der Moment unseres höchsten Glücks niemals vergeht. Die Klinge ist so lang, dass sie gleichzeitig auch mein Herz durchbohren wird. Auch er wird in diesem Moment wissen, dass sich nur so unsere Liebe erfüllen kann. Die Liebe und der Tod werden uns vereinen. Wir werden nie mehr getrennt sein. Nie mehr.

      Da. Er tritt aus dem Korridor auf die Bühne. Der Applaus und die Hochrufe, die uns empfangen, sind überwältigend. Ich lächle ins Publikum. Trete ans Mikrofon. Lasse meinen Blick schweifen.

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       6.10.12

      Ich betrete den Korridor – ein Hinterhalt: Du springst hervor, ich zück mein Schwert, du schreckst zurück und ziehst anstatt des Degens deine Seele blank. Und ich? Steh zitternd vor dir, kann den Streich unmöglich führen, lass das Schwert zu Boden fallen, gebe mich dir kampflos in die Hände. Die Kapitulation verwirrt dich nur noch mehr, statt mich zu fesseln küsst du mich, und erst viel später, sehr viel später, wird uns klar, dass uns – zu unsrem Glück – doch glatt ein kapitaler Irrtum unterlief.

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       28.10.12

      Ich betrete den Korridor, eines meiner Gedichte aus jungen Jahren deklamierend, das mir gerade in den Sinn gekommen ist. Vergnügt lärmen Kinder zwischen meinen Zinnoberzeilen und Amarantworten, und schon sind sie in eine andere, interessantere Geschichte verschwunden.

      Ein Kardinal bleibt zurück. Hummerrot versinkt die Sonne. Die schwarze Tür ohne Knauf schlägt zu. Eine kuschlige Stille räkelt sich im zerwühlten Bett.

      Wind in Sicht!, kräht der Kardinal, der den Kleiderschrank erstiegen hat, und ich beschließe, angesichts dieser absurden Welt noch eine Weile mit dir im Arm liegenzubleiben.

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