Holger Rudolph

Schock am Walpurgisfeuer


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einem Schultertätscheln: „Schön, dass du es so schnell geschafft hast.“ Die kurzen, blond gefärbten Haare des Assistenten wirken noch strubbeliger als sonst. Ein Gähnen kann Dennis nicht unterdrücken, ehe er grinsend antwortet: „Ach Chefin, für Sie tue ich doch alles, was nur irgendwie in meiner Macht steht! Glauben Sie nicht? Warten Sie es ab!“ Er siezt sie noch immer, obwohl sie nun schon bald ein halbes Jahr miteinander arbeiten und sie ihn von Anfang an duzte.

      Nur ein paar Schritte, schon sind Anna und Dennis bei den nur noch dürftig verkleideten Frauen. Die Harzerinnen haben die fratzenhaften Masken und silbrig glitzernden schwarzen Spitzhüte weggepackt. Die zum Walpurgisnacht-Ritual gehörenden Besenstiele liegen auf dem Erdboden. Sie wollten darauf tanzen, mit ihren Handys Fotos machen und die Bilder nach Hause und in ein paar soziale Netzwerke schicken: Jubel, Trubel, Heiterkeit.

      Jetzt ist alles anders. Nur die schwarzen Gewänder, die sie noch immer tragen, erinnern daran, dass die Freundinnen hier feiern wollten.

      Langsam nähern sich die Ermittler den am Tisch sitzenden Frauen. Im Schein des Lagerfeuers wirken die tiefrot getönten Haare der Kommissarin fast schon furchterregend. Nur gut, dass hier niemand Gedanken lesen kann. Dennis hatte seiner derart angestrahlten Chefin eben insgeheim empfohlen, sich eine der Masken und einen Hut zu greifen. Dabei ist sie doch alles andere als eine Hexe, findet der abgebrochene Physikstudent. Schon bei ihrem vorigen Fall waren sie sich ziemlich nahe gekommen. Er mag sie mehr, als es für die gute dienstliche Zusammenarbeit nötig ist. Dabei spielt es für ihn überhaupt keine Rolle, dass sie viel älter als er selbst ist.

      Anna Klettner reibt sich die Hände. Es ist kühl, allenfalls zehn Grad Lufttemperatur: „Guten Abend, oder besser guten Morgen, die Damen. Ach was, von gut kann wohl nicht die Rede sein. Ich muss Sie nun zu allem Übel auch noch fragen, wer von Ihnen die Tote gefunden hat und wo die Leiche liegt.“

      Diana Krell antwortet: „Ich bin das. Ich wollte eigentlich nur mal für kleine Mädchen in den Wald. Auf einem Ast saß dort ein riesiger Uhu. Da hätte ich fast das erste Mal geschrien und rutschte auf dem regennassen Laub aus, das in dicker Schicht auf dem Waldboden liegt. Doch dann wurde mir klar, dass von dem Vogel keine Gefahr für mich ausging. Erstaunlich, dass er sitzenblieb und mich aus seinen übergroßen orangefarbenen Augen anblickte. Nach ein paar Minuten ging ich wenige Schritte weiter, um endlich, na Sie wissen schon… Eine Wolke hatte sich vor den fast vollen Mond geschoben. Für wenige Minuten wurde es stockdunkel. Als die Wolke vorbeigezogen war, sah ich sie dann direkt vor mir liegen. Eine Frau, vielleicht Mitte Fünfzig. Was in Fetzen an ihr herabhing, müssen wohl mal ein olivgrüner Rock und eine bräunliche Bluse gewesen sein. Viel mehr konnte ich nicht erkennen. Nur, dass sie am ganzen Körper Bissmale hat und das Gesicht wie von einem oder mehreren Raubtieren zerkratzt aussieht. Außerdem war der Waldboden um sie herum voller Blut. Sie muss unbändige Schmerzen erlitten haben.“

      Die Kommissarin ist erstaunt über die detaillierte Schilderung: „Sie halten sich toll. So etwas erlebe ich sonst selten.“

      Diana lächelt ein ganz klein wenig: „Nun, ich bin OP-Schwester. In meinem Beruf habe ich schon vieles gesehen, was mir lieber erspart geblieben wäre. Irgendwann gewöhnt frau sich an fast alles.“

      Diana Krell führt die Ermittler zum Fundort. Die mitgebrachten batteriebetriebenen Halogenstrahler erleuchten den Tatort hell. Sie zeigen ein schreckliches Bild. Anna Klettner hat in den zurückliegenden bald zwanzig Dienstjahren einiges gesehen. Doch was sich ihr hier bietet, scheint im wahrsten Sinne einen unmenschlichen Ursprung zu haben.

      Bisher hatte sie sich stets darüber gefreut, wenn sie davon hörte, dass es im Ruppiner Land seit Jahren mindestens einen Wolf geben soll. Doch jetzt muss sie unwillkürlich daran denken, dass es sich beim Täter um genau so ein Tier handeln könnte. Ist am Ende doch etwas dran an den Befürchtungen jener Leute, die den Wolf hier nicht wollen?

      Sie sagt leise: „Das sieht wirklich wie Hundebisse aus. Bisse am gesamten Körper. Welcher Hund ist dazu in der Lage. Und warum sollte er das tun?“

      Ihr Assistent hat mehr entdeckt: „Da sind nicht nur die Bisse. Ich sehe auch viele Blutergüsse. Die können unmöglich von einem Tier stammen. Jemand scheint zielgerichtet viele Male zugeschlagen zu haben. Vielleicht waren es auch mehrere menschliche Täter.“

      Dennis beobachtet seine Chefin. Sie steht regungslos dort. Er wagt jetzt nicht, sie anzusprechen. Die Antwort würde gepfeffert ausfallen. Also lässt er sie in ihrer Grübelstellung, Ellenbogen nach außen gestemmt und das Gesicht vollkommen starr, stehen. Er kennt das längst. Die Kommissarin ist nicht weggetreten. Es sieht nur so aus. Ihr Gehirn arbeitet auf Hochtouren, auch wenn es scheint, als würde die Erstarrte in wenigen Augenblicken zusammenbrechen. Also lässt er sie stehen. Soll sie nur in aller Ruhe nachdenken. Sie hat jetzt Zeit. Die 13 Frauen sind schon vor ein paar Minuten in ihre Autos gestiegen und zurück zum Hotel gefahren. Es gibt heute Nacht hier nichts mehr für sie zu tun.

      Dennis würde nur zu gern wissen, um wen es sich bei der Toten handelt. Doch sie hat keinerlei Papiere bei sich. Er weiß allerdings, dass irgendwo im Wald bei Kleinzerlang eine Tierschützerin leben soll, deren Ansichten manche Menschen extrem nennen. Nachdem in der Lokalzeitung vor ein paar Wochen über einen Wolf berichtet worden war, der in der Nähe von Neuruppin neun Schafe gerissen hatte, gab es Reaktionen aus dem Kreisbauernverband. Es sei nicht vernünftig, dass in ein paar Jahren vielleicht schon mehrere Rudel Wölfe durch die Ruppiner Wälder streifen. Diese Räuber würden nicht nur zur Gefahr für Nutz- und Wildtiere. Sie könnten auch Menschen angreifen, so die Kritiker.

      Der im Auftrag der Naturschutzverbände arbeitende Wolfssachverständige Olaf Norden hatte tags darauf in derselben Zeitung eine Lanze für Isegrims Rückkehr gebrochen. Praktisch nie würde ein Wolf einen Menschen angreifen. Viel größer sei die Gefahr, dass so ein Tier zum Opfer des Menschen werde. Nämlich dann, wenn ein nichts böses ahnender Wolf auf der Landstraße von einem Auto erfasst würde.

      Einen weiteren Tag später hatte sich jene Kleinzerlanger Tierschützerin auf den Rheinsberger Kirchplatz gestellt. Sie trug ein Wolfskostüm. Auf dem Transparent, das sie mit anklagendem Blick hochhielt, stand „Ein Vertriebener kehrt zurück. Ich gehöre hier her!“

      In der Zeitung war später zu lesen, dass einige Einwohner die Protestierende gelobt hätten. Andere aber seien unter heftigem Kopfschütteln mit schnellem Schritt an ihr vorbeigegangen. Dennis erinnert sich noch gut an das Bild in der Zeitung. Die Tote ähnelt der Tierschützerin. Sicher ist er sich allerdings nicht. Denn letztens war ihr Gesicht grau geschminkt. Und heute ist es durch die Bisswunden stark entstellt.

      Anna Klettner löst sich aus der inneren Versenkung. Immer wieder hatten sich in der zurückliegenden Viertelstunde Szenen aus dem Grimmschen Märchen „Rotkäppchen und der Wolf“ vor ihrem inneren Auge abgespielt. Außerdem sah sie einen Wolf im Frack, der mit einem Schaf im Ballkleid, am Zweiertisch sitzend, Champagner trank. Im Hintergrund spielte ein Grammophon „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft …“

      Zugegeben, sie war aus ihrer inneren Versenkung schon mit weit sinnvolleren Ideen erwacht. Die Kommissarin lächelt. Dennis hofft, dass dies ein gutes Zeichen ist. Vorsichtig und sehr leise fragt er: „Wo bleibt eigentlich die Spurensicherung. Haben sich die Kollegen in der märkischen Wildnis verirrt?“

      Die Kommissarin schaut auf die Armbanduhr. Es ist kurz nach Drei. „Keine Panik, Dennis. Ein bisschen Zeit wollen wir ihnen zugestehen. Es kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass mitten in der Nacht am Ende der Welt eine Tote gefunden wird.“

      Sie setzt sich auf eine der hohen Holzbänke am überdachten Rastplatz und lässt die Beine baumeln. „Dennis, glaubst Du, dass ein Wolf einen Menschen derart zurichten könnte?“

      Dennis schüttelt den Kopf schnell, fast schon hastig: „Ich denke, es waren mehrere Tiere. Wölfe, Hunde oder weiß der Gott, was für Wesen. Nein, ich glaube nicht an Werwölfe, aber wir sollten Luchse nicht ausschließen. Die kommen hier zwar eigentlich nicht vor. Doch wer kann sich da schon sicher sein. Die vielen Blutergüsse sehen allerdings so aus, als ob die Frau ausgepeitscht worden ist. Wer tut so etwas?“ Er schüttelt den Kopf verstört. „Chefin, wir sollten uns auf keinen Fall bei der Beurteilung der Wunden nur auf unsere Leute verlassen. Dieser Wolfsexperte Norden