Shimona Löwenstein

Appeasement und Überwachung


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der Jugendlichen der Konsum von Filmen mit Gewaltszenen. Nur haben diese scharfsinnigen Beobachter nicht bemerkt, daß man in diesen „Gewaltfilmen“ (zu denen sie meist auch alle Arten von Thriller, Kung-Fu-Filme u.ä. zählen) oft für Freiheit und gegen Unrecht kämpft. Der Kampf schlechthin gilt als Gewalt und wird für weitere Gewalt verantwortlich gemacht.

      Gleiches gilt auch für Computer- und Videospiele, insbesondere bestimmte beliebte Kampf- und Actionspiele, die als Sündenbock herhalten müssen. Nach dem „Amoklauf“ des neunzehnjährigen Schülers am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt im April 2002, der 16 Menschen erschoss, unterbreitete man in der Öffentlichkeit (außer ständig wiederholter Fassungslosigkeit, Betroffenheit und tiefer Trauer) Mutmaßungen über Computerspiele, insbesondere das Spiel Counter Strike als mögliche Ursache für den Mord. Nicht angezweifelt wurde dagegen der legale Besitz von Waffen nur aufgrund der Mitgliedschaft in einem Schützenverein. Dabei war das Tatmotiv mehr als offensichtlich: Der betreffende Schüler wurde nicht zum zweiten Mal zum Abitur zugelassen, sondern von der Schule verwiesen, erhielt nicht einmal einen Abschluß der mittleren Reife, wie in allen anderen Bundesländern üblich, lernte stattdessen schießen und plante sorgfältig einen Mord an denjenigen Lehrern, die er für seine verdorbene Zukunft verantwortlich machte. Es handelte sich insofern um keinen wirklichen Amoklauf, sondern einen wohldurchdachten Racheakt. [15]

      Ein wütender Leserbrief in der Berliner Zeitung prangerte die Heuchelei der veranstalteten Trauerfeier an, die eine Parallele zum Anschlag auf das WTC in New York zog: „Das außerhalb Erfurts zur Schau getragene Entsetzen über den Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium sehe ich, wenn es die Ermordung der Lehrer betrifft, zum Teil lediglich als ‚Show‘ an. In einem Land, in dem es gesellschaftlicher Konsens ist, begrenztes Leistungsvermögen und unvermeidbare Frustrationen ausschließlich Lehrern anzulasten, in einem Land, in dem die Prügelknaben der Nation an kaputtgesparten, von Bürokratie eingeschnürten Schulen Wissen vermitteln müssen und Mängel reparieren sollen, die die Gesellschaft schneller produziert, als es Schultage auffangen können, in einem Land, in dem Schule als Zwangsort und Freizeitkonsum als das wahre Leben gilt, in so einem Land soll das Entsetzen über das Massaker an zwölf Lehrern ehrlich gemeint sein?“ [16] Inwiefern die Behauptung, daß die Schule Mängel repariert, die die Gesellschaft produziert, zutrifft, bleibt angesichts der bereits behandelten Problematik fraglich, ebenso die vermeintliche Schuldzuweisung an die Lehrer. Daß das Schulsystem an der Verzweiflung des Täters mitverantwortlich gewesen sein könnte, indem man diesem eine zweite Chance verwehrte, wurde tatsächlich während der Trauerreden nicht ein einziges Mal erwähnt. Stattdessen wurde nur über Gewalt allgemein (Frage an einen jüngeren Schüler: „Gibt es Gewalt an eurer Schule?“, und die verblüffende Antwort: „Nein, überhaupt nicht.“) und Gewalt in Computerspielen insbesondere spekuliert.

      Selbst wenn Angriffe auf Lehrer oder gar Massaker ähnlicher Art (in den letzten Jahren gab es mehrere solche Fälle) selten sind, stellen Frustration und Langeweile in der Schule bekanntlich die häufigste Ursache für das Schulschwänzen dar. Manchmal ist dann das Absinken in Kriminalität (Diebstahl, Erpressung, Gewalt) programmiert. [17] Dieser Zusammenhang gilt aber nicht als das politisch korrekte Erklärungsmuster, das statt der naheliegenden und häufig selbst genannten Motive lieber nach Ursachen in einem ganz anderen Bereich sucht. Sog. „Ballerspiele“ stellen wieder einen der beliebtesten Sündenböcke dar. Auch in den Medien wird oft über die Brutalität der Computerspiele als mögliche Ursache, zumindest für Abstumpfung und Desensibilisierung der Jugend gemutmaßt. [18] Beweise fehlen freilich.

      Auch wenn es bestimmte „Verdachtsmomente“ für einen Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten und entsprechenden Spielen gibt, sind die ermittelten Werte nicht nur deutlich geringer als nach dem Anschauen von Filmen mit Gewaltszenen, sondern wirken auch nur kurzfristig. Über längerfristige Auswirkungen auf das alltägliche Verhalten lassen sich kaum eindeutigen Aussagen machen. Jedenfalls sind aus dem Spielgeschehen keine kausalen Rückschlüsse auf das Handeln in der Realität abzuleiten, zumindest nicht in dieser simplen Form, wie Hartmut Gieselmann in seinen Überlegungen über die Auswirkungen von aggressiven Computerspielen festgestellt hat. [19] Eine australische Studie von Kevin Durkin und Kate Aisbett [20] weist vielmehr das Gegenteil nach, was den Überlegungen von Gisela Wegener-Spöring oder auch der psychoanalytischen Theorie von der sublimierenden Funktion von Gewalt im Spiel (nach Klaus Hartmann) entspricht. [21] Normalerweise hat das Spiel keinen oder eher positiven Einfluß auf das reale Leben, es sei denn, es kommt zu bestimmten unbewußten Transferprozessen zwischen Realität und Spiel. Auch nach Gerard Jones Buch Kinder brauchen Monster besteht kein Zusammenhang zwischen Killerspielen und Schulmassakern. [22] Die Firma Electronic Arts klagte gegen die Indizierung des Spieles Command & Conquer: Generals: Diese stehe selbst zu dem neuen Jugendschutzgesetz im Widerspruch. Hinter den Indizierungen von Computerspielen wegen ihrer Gewalt- oder Kriegsverherrlichung vermutete man eher politische Motive (Einstellung zum Irak-Krieg) als moralische bzw. jugendgefährdende Gründe. [23] Die Verteufelung der Spiele beruhe jedenfalls auf vorschnellen Urteilen des psychologischen Establishments, das verdammt, ohne je gespielt zu haben. [24]

      1.2. Lösung 1: Strafverbot, Versöhnungstraining und Antigewalt-Management

      Wie beim Schulversagen wird auch bei Jugendgewalt die Verantwortung meistens bei den Eltern gesucht. Hier geht die Bevormundung der Eltern noch weiter als bei den Anweisungen, wie sie die Schule unterstützen oder ihre Kinder für die Schule tüchtig machen sollten. Die Erziehung zu Hause – der eigentliche Bereich, der in der Befugnis der Eltern liegt – blieb vom pädagogisch-reformerischen Eifer keineswegs unberührt. Von der Geburt eines Kindes an verschickt man beispielsweise „Elternbriefe“, später „Schülerbriefe“ und andere Empfehlungen an die Eltern, mit denen sie durch pädagogische Ratschläge traktiert werden. Dazu gehören auch Beratungsstellen, Gruppen und Kurse für Eltern, in denen sie „unter fachlicher Anleitung“ lernen sollen, ihre Kinder freundlich und friedlich zu erziehen. [25] Im Sommer 2006 starteten zum Beispiel an 15 Berliner Schulen Pädagogikkurse für Eltern. Der Staat hat seine Erziehungsbefugnis somit in die private Sphäre hinein erweitert. Damit wird das Erziehungsrecht der Eltern allmählich ausgehöhlt und zu bloßer Erziehungspflicht umgedeutet, die sie überdies nach Anweisungen von „Fachleuten“ vollziehen sollen. Laut Bundesministerin Renate Schmidt müssen sich die Eltern umstellen und (neben anderen Pflichten) auch „Medienkompetenz“ erwerben. Sie sollen dafür sorgen, daß Kinder mit Gewaltspielen oder dergleichen nicht in Berührung kommen; sie müssen sich damit beschäftigen, was ihr Kind macht, und müssen ihm deutlich machen, daß Konflikte nicht mit Gewalt zu lösen sind. [26] Auffällig dabei ist nicht nur das allzu oft wiederholte Wort „müssen“, mit dem quasi Untertanen in ihrer Elternfunktion von der Obrigkeit verordnet wird, was sie in bezug auf ihre Kinder zu tun und zu lassen haben. Das geschieht auch in einem rechthaberischen Ton, der eine nicht weiter hinterfragte Ansicht als indiskutable Wahrheit hinstellt.

      Ein ähnliches Muster wird auch beim Problem des exzessiven Alkoholkonsums von Jugendlichen verwendet. Als „schwerwiegende Ursache“ wird von der Leiterin der Suchtprävention in Berlin Kerstin Jüngling die Präsenz von Alkohol sowie fehlende Kommunikation und Verantwortungslosigkeit in der Familie diagnostiziert – unabhängig davon, daß das heute beliebte Koma-Trinken mit dem hierzulande üblichen Alkoholgenuß wenig zu tun hat. Anschließend heißt es, daß die Eltern „Grenzen setzen müssen“. Da sie damit heute aber oft überfordert seien, sollte man sie darin unterstützen, ihre „fehlende Erziehungskompetenz“ wiederherzustellen. Sie müssen lernen, wie man ihren Kindern Grenzen setzt und sie sinnvoll über Themen wie Alkohol aufklärt. [27] Wieder eine verkehrte Argumentation und anmaßende Bevormundung als Quasilösung: Wie sollen Eltern ihren Kindern Grenzen setzen, wenn sie es nach Meinung der heutigen korrekten Pädagogik gar nicht dürfen, zumindest auf die gewöhnliche negative Weise? Den Eltern wird zwar die Schuld dafür gegeben, was ihre Kinder falsch machen, aber die Befugnis dafür entzogen, Gegenmaßnahmen so zu treffen, wie sie es selbst für richtig halten.

      Das Problem des Koma-Trinkens wird massiv aufgebauscht, obwohl der tatsächliche Alkoholkonsum von Jugendlichen nachweislich kontinuierlich sinkt. [28] Hinter der Anprangerung der Eltern steckt aber in diesem Fall noch etwas anderes: Alkoholvergiftungen von Jugendlichen,