Stephan Waldscheidt

Über das Schreiben eines Romans: 55 Schreibtipps für Profis


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euch!« Ella hatte das Fenster heruntergekurbelt, um die frische Nachtluft in den Wagen zu lassen. Jetzt drückte sie die Sprechtaste und sagte: »Hier NAW 4305.«

       »Wo seid ihr gerade?«

       »Luisenstraße, auf Höhe der S-Bahn-Überführung. Was gibt’s?«

       »Starke Blutung in Kreuzberg«, sagte der Disponent in der Feuerwache durch das knisternde Rauschen. »Vielleicht Schock. Ihr seid am nächsten dran.«

       »Adresse?«, fragte Ella.

       »Benno-Ohnesorg-Straße 7, Ecke Möckernstraße, oberster Stock. Eine Frau.«

       Auf dem Navidisplay am Armaturenbrett erschien die Route vom Standort des Rettungswagens zum Ziel.

       »Weitere Angaben?«, fragte Ella, und auf einmal brauchte sie keinen Kaffee mehr.

       »Keine weiteren Angaben.«

       »Ist jemand bei der Frau?«

       »Unbekannt.«

       »Wer hat uns gerufen?«

       »Ein Mann. Anonym. Er hat nur gesagt, gegenüber stirbt eine Frau. Mehr war nicht, dann hat er aufgelegt.«

      So rasant beginnt der Thriller »Erlösung« (Blessing 2011). Nein, das ist nicht der von Jussi Adler-Olsen, sondern der des deutschen Autors C. C. Fischer. Wie lief das wohl mit dem Titelschutz?

      Ein Einstieg in medias res – zu deutsch: eine Arschbombe dort hinein, wo du das Wasser des Beckens vor Menschen nicht mehr sehen kannst – hat den Vorteil, den Leser direkt ins Geschehen zu ziehen oder, wenn man genug Verve mitbringt, ihn hineinzureißen.

      Fischer verzichtet weitgehend auf direkte Beschreibung, dennoch nimmt er den Leser allein durch die Handlung mit hinein in sein Setting. Er schafft das durch Dialog – auch Dialog ist Handlung! – und im Dialog durch einen berufsspezifischen Jargon, hier den der Rettungssanitäter. Es spielt für das Verständnis keine Rolle, ob der Leser weiß, dass NAW Notarztwagen heißt. Ich bin sogar geneigt zu sagen: im Gegenteil. Das eine oder andere dem Laien unverständliche Wort erhöht für viele Leser die Glaubwürdigkeit noch.

      Für die Mehrheit der Leser ist es wichtiger, ob ein Text authentisch wirkt, als dass er authentisch ist, aber eben nicht so wirkt. Fischers Anfang ist, einer Leserin meines Blogs zufolge, weder außergewöhnlich aufregend noch authentisch. Weil sie sich selbst mit solchen Einsätzen gut auskennt.

      Aber das ist nicht der Punkt. Es kommt eben nicht primär darauf an, ob etwas für Charaktere der Geschichte aufregend ist, sondern ob es auf den Leser aufregend wirkt. Der Routineeinsatz einer Seenotrettung von einer brennenden Bohrplattform mag für die Rettungskräfte nichts Ausgefallenes sein – und damit ebenso wenig für Leser, die mit solchen Einsätzen vertraut sind. Für die Mehrheit der Leser aber bleibt die Szene dramatisch.

      Für eine andere Kommentatorin meines Blogs war es gerade das Routinierte des Dialogs, das zur raschen Orientierung in der Szene und in der Welt dieses Romans beigetragen hat. Das scheinbar Überflüssige für die eine Leserin war für die andere genau das richtige Maß, um sich vollständig in die Stimmung des Romans zu versenken.

      Ob die Fakten stimmen oder nicht und ob und wie weit sie stimmen müssen, ist ein anderes Problem. Meiner Meinung nach ist ein Roman ein Roman, also Fiktion, und wer tief genug bohrt, wird immer etwas finden, was nicht »stimmt«, also nicht der Realität entspricht.

      Warum beispielsweise soll es erlaubt sein, Menschen zu erfinden, aber nicht, ein Café in einer Straße in einem Haus, das es in der realen Welt dort nicht gibt? Wo sind die Grenzen? Und wer legt sie fest?

      Dass man alles bis ins Letzte recherchieren solle, ist keine realistische Vorgabe. Irgendwelche Lücken wird man lassen müssen, bei manchem wird man glauben, man wüsste genug und wird von Lesern eines Besseren belehrt.

      Ich empfehle bei der Recherche Pragmatismus – was öfters heißen kann: Mut zur Lücke. Die Geschichte sollte im Vordergrund stehen. Und nicht selten wird das eben auch bedeuten, dass Sie Fakten verbiegen, verfälschen oder schlicht ignorieren. Die Wahrheit von Literatur ist größer als die Wirklichkeit. Falls Sie damit ein Problem haben, schreiben Sie lieber ein Sachbuch.

      Letztlich muss jeder Autor selbst festlegen, wie genau er jedes Krümelchen recherchiert. Ob seine Recherche gut genug war, werden die Leser entscheiden.

      Zurück zu »Erlösung«. Durch die knappen Dialoge, die gegen Ende auf die Sprecherzuordnung verzichten, gewinnt der Einstieg nicht nur an Dynamik und Dringlichkeit. Das Tempo des Dialogs spiegelt das Tempo des Notarztwagens wider. Außerdem gibt bereits der Einsatz eines NAW dem Leser ein deutliches Signal: Hier ist gerade etwas Schreckliches passiert. Seine Neugier ist angestachelt. Er hängt am Haken.

      Achten Sie bei Ihren Einstiegen aber nicht bloß darauf, Ihre Leser an den erzählerischen Haken zu nehmen. Sondern liefern Sie, wie das C. C. Fischer tut, ein stimmiges Gesamtpaket ab aus Setting, Dialog, Handlung und, vor allem, Einführung der Heldin.

      Die Heldin Ella wird, ohne sie explizit zu beschreiben, allein durch ihren Beruf als Notärztin und ihre konzentrierte, knappe Art, in einer Notsituation zu sprechen, dem Leser deutlich vor Augen geführt. Sie wirkt sofort sympathisch. Vor allem aber wirkt sie wie eine Frau, die als Heldin den lebensbedrohlichen Anforderungen eines Thriller-Plots gewachsen sein könnte. Obwohl wir als Leser ahnen, dass sie weit Extremeres durchmachen wird als einen an sich schon fordernden Einsatz am Unfallort, der hier natürlich der Schauplatz eines Verbrechens ist.

      Seien Sie sich bewusst, dass Sie am Anfang Ihres Romans auf der ersten Seite schon Ton und zu einem gewissen Maß auch das Tempo vorgeben, die der Leser dann auch im Rest des Romans zu finden erwartet. Bei C. C. Fischers Roman »Erlösung« erwarten wir nichts weniger als einen schnellen, packenden Thriller.

      Der Einstieg über langwierige Beschreibungen und Info-Dumps ist auch unter diesem Aspekt problematisch: Beides lässt den Leser ähnliche Langatmigkeit für den Rest des Romans erwarten. Ob zu Recht oder zu Unrecht, spielt keine Rolle, denn bis es eine Rolle spielen könnte, hat der Leser den Roman womöglich schon zur Seite gelegt.

      Ich empfehle Ihnen daher, selbst wenn Ihr Roman eher eine ruhigere Geschichte erzählt, nicht allzu behäbig anzufangen, sondern zumindest anzudeuten, das auch Ihre ruhige Geschichte durchaus Spannendes, ja, Aufregendes zu bieten hat.

      Wie bei einem gelungenen Menü sollte bereits der Gruß aus der Küche erahnen lassen, welche Gaumenfreuden auf den Gast zukommen. Und wie der Gruß aus der Küche ein eigenes Gericht ist, sollten Sie auch den Anfang Ihres Romans als eigene Geschichte auffassen, durchaus mit Spannungs- und Chrakterbogen (was übrigens auch für jede Ihrer dramatischen Szenen gilt).

      Wenn Sie sehen, welche Bedeutung der Anfang für Ihr Buch haben wird, ergibt das Sinn: In Leseproben, vielleicht auf Lesungen, womöglich in Vorabdrucken, ganz sicher bei Agenten und Verlagen und in der Hand des Lesers im Buchladen wird diesem Anfang die Aufgabe zukommen, Ihren Roman zu verkaufen – nicht dem tollen 17. Kapitel und auch nicht der herzergreifenden Sterbeszene am Ende des 2. Akts, nein Ihrem Romananfang. Dementsprechend werden Sie auch keinen anderen Teil Ihres Romans so oft überarbeiten. Und das ist gut so. Was hieß noch gleich NAW? Richtig: Nehmen Sie den Anfang wichtig!

      [Meinen Dank an Henny, Jasmin und Sabine, durch deren wertvolle Kommentare im Blog ich diesen Artikel weiter vertiefen konnte.]

      Informationsüberflutung des Lesers

       Dazu fällt mir noch folgende Geschichte ein …

      Wir finden ihn am Anfang von Fantasy-Romanen, auch in historischen Romanen erwartet er schon die arglosen Leser. Science-Fiction-Freunde sind vor ihm ebenso wenig sicher wie die Leser anspruchsvoller Literatur – kurz: Er lauert überall,