Sabine von der Wellen

Die Hoffnung aus der Vergangenheit


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      Da meine Mutter mir von klein auf eingetrichtert hatte, dass es jemanden gibt, der alles lenkt und einen behütet, hielt ich meinen Freund aus meinen Träumen für völlig normal. Während sie dieses Wesen in den kalten, riesigen Gotteshäusern immer wieder aufs Neue zu suchen begann und ihn in unseren Gebeten anflehte, dies und das zu tun, hatte ich ihn immer bei mir. Deshalb bekam dieser Kirchenquatsch auch niemals die gleiche Bedeutung für mich, wie für sie. Ich brauchte nicht zu beten und zu flehen, denn er kam auch so und war für mich da. Ich hielt das alles für völlig normal.

      Als ich meiner Mutter das einmal zu erklären versuchte, wurde sie sehr böse und behauptete, das müsse ein böser Geist sein, der von mir besitzergriffen hatte. Sie schleppte mich einige Wochen lang zu jeder Messe, die sich anbot und ließ mich in Beichtstühlen meine Zeit absitzen. Aber ich hatte keinen Bezug zu diesen fremden Männern auf der anderen Seite des winzigen Raums, die mich ausquetschen wollten wie eine Zitrone, um meine Sünden freizulegen. Ich wusste nicht mal, was mit Sünden gemeint war, und war mir keiner Schuld bewusst.

      Man hielt mich für bockig oder zu dumm und ich hatte erst Ruhe, als ich meiner Mutter weinend erklärte, sie angelogen zu haben und dass es niemanden außer ihr und Gott in meinem Leben gibt. Dafür bekam ich die ersten Schläge meines Lebens und schwor mir, niemals wieder meinen Kurt zu erwähnen.

      Er blieb aber weiterhin mein geheimer Freund und meistens mochte ich die Zeit mit ihm. Aber je älter ich wurde, je erschreckender konnten die Träume mit ihm werden. In ihnen erlebte ich die Schrecken eines Krieges, was meine Träume düster und beängstigend machte, und auch die Liebe, die Kurt einem Mädchen entgegenbrachte. Sie war blond, hatte blaue Augen und war wunderschön. Die beiden zusammen erleben zu dürfen, brachte eine Sehnsucht in meine Welt, auch so etwas haben zu wollen und ich glaubte daran, dass sich dieser Wunsch eines Tages erfüllen wird.

      Zu diesem Zeitpunkt saß ich wenigstens einmal die Woche meine Zeit in einer Kirche ab. Das gehörte zu meinem Alltag, wie alles andere, was ich über mich ergehen ließ, um meine Mutter gnädig zu stimmen. Denn weder meine Bemühungen, mein Klavierspiel ihren Anforderungen anzupassen, noch meine guten Schulnoten ließen ihr stets kaltes Herz sich erwärmen. Für sie zählte nur Leistung, Ruhm und Gehorsam.

      Ich hatte einen Schalter, den ich, sobald meine Mutter in meine Nähe kam, umlegte und dann war ich der brave, folgsame und religiöse Junge, den sie wollte. Wenn sie nicht da war, dann schaltete ich automatisch auf den wirklichen Tim, der diese Eigenschaften aus seinem Leben strich und anderen Platz machte.

      Wie alle Jungen meines Alters machte ich mit dreizehn Bekanntschaft mit diversen Sexfilmen, an die man nur zu leicht durch das Internet herankam. Dort offenbarte sich mir eine Welt, die nichts mit den Gefühlen aus meinen Träumen gemein hatte, aber mir die Möglichkeit gab, mir den immer stärker werdenden innerlichen Druck zu nehmen, der oftmals unerträglich zu werden drohte. Ich war wie zweigeteilt. Einerseits wollte ich tiefes Gefühl und sehnte mich danach, dass jemand zu mir gehört und mir bedingungslose Liebe entgegenbringt, andererseits gab es da diese gefühlslose, kalte Welt in diesen Filmen, die so gut zu meiner bisherigen passte. Diese Filme, die keine Gefühle oder Liebe widerspiegeln, sondern einzig und allein der Befriedigung dienen, lösten in mir etwas aus. Anfangs versuchte ich die Filme noch als Lehrmaterial anzusehen und achtet noch auf die Frauen und versuchte zu ergründen, was sie dazu brachte, das zu tun, was sie taten. Aber das war etwas, was ich nie ganz definieren konnte, denn sie stöhnten und forderten den Sex, aber letztendlich diente alles nur der Lust des Mannes und war auch damit beendet. Aber das war der Grund, warum mir diese Welt gefiel, denn sie war so anders als das, was meine Mutter mir beibrachte. Für sie war ein Mann ein Nichts, der nicht mal den Wert des Bodens aufwog, auf dem sie lief. Aber in dieser Welt, die mir in den Filmen gezeigt wurde, war der Mann der Bestimmer über alles. Da war es kein Wunder, dass sie mich so in ihren Bann zogen und mir gleichzeitig etwas schenkten, das mich zumindest befriedigte.

      Natürlich wollte ich das in der Realität auch bald haben. Aber meine Mutter unterband alles, was mich anderen Mädchen näherbrachte. Sie wollte mich zu diesem Zeitpunkt nur für sich. Ich war das einzig männliche Wesen auf dem Planeten, dass neben ihr bestand hatte und dass sie neben sich duldete.

      „Tim, wir beide sind das Gespann, das die Welt beherrschen kann“, war einer der Sprüche, die sie von sich gab, wenn wir ein Konzert gaben und Begeisterung auslösten, die sie stolz machte. Das war ein Spruch, der mich in Höhen erhob, die bis in andere Dimensionen reichen konnten.

      Es gab aber auch andere Sprüche, die mich zu Boden warfen und in den Schlamm traten. Dann verkroch ich mich wieder in die Welt, in der Kurt immer auf mich zu warten schien, um mich aufzubauen und in eine Richtung zu führen, die mehr als nur meinem Glück diente. Aber das erkannte ich erst sehr viel später.

      Mit den Jahren begannen sich meine Träume zu ändern. Kurt suchte sein Heil in einer anderen Welt und verließ das blonde Mädchen. Damit nahm er mir die Gefühle, die mich in meinen Träumen gewärmt hatten und mir Geborgenheit gaben. Dafür füllte er sie mit Wissen über eine andere Kultur und der Alchemie. Ich erkannte erst sehr viel später, was das alles bedeutete.

      Die Träume waren dadurch aber nicht mehr so anregend und ich lechzte nicht mehr danach. Einige Zeit gehörte mein Leben fast ausschließlich mir, und Kurt schien mich verlassen zu haben. Doch dann, vielleicht aus einer Sehnsucht nach den alten Gefühlen geboren, erschien ein blondes Wesen in meinen Träumen und gab mir diese warmen, tiefreichenden Gefühle wieder. Erst glaubte ich, dass es Kurts Sonja war. Das Mädchen erschien mir nie ganz klar und mehr wie eine undeutliche Wunschausgabe von etwas aus meinem Inneren. Aber in der Welt der Träume ist selten alles glasklar und somit war das für mich nichts, was mich beunruhigte. Ich war einige Zeit wirklich glücklich und hoffte jeden Abend, dass dieses Wesen in der Nacht zu mir kam und mich mit in ihre Welt nahm. Aber das kam nicht oft vor, denn Kurt drängte sich irgendwann erneut in meine Wahrnehmung. Mich begannen die Träume mit ihm zu verstören. Aber ich hatte keine Macht darüber. Nur meine Tagträume konnte ich bestimmen und in denen ersann ich meine Welt mit diesem blonden Mädchen. Doch meine nächtlichen Träume begannen immer mehr zu Alpträumen zu werden, in denen jemand, den ich anfangs für Kurt hielt, zur Gefahr für dieses Mädchen zu werden drohte.

      Wer weiß, ob ich alles wieder so gemacht hätte, wenn ich nochmals die Wahl hätte. Vielleicht war es ein Fehler, dieses Mädchen in der realen Welt zu suchen. Aber ich glaubte, dass sie die Liebe meines Lebens sein wird, wenn ich sie finde. Und ich wollte sie unbedingt finden. Schon wegen dieser Alpträume, in denen sie immer öfter von jemanden bedroht wurde und ich das Gefühl hatte, dass nur ich etwas dagegen tun konnte. Dabei war es letztendlich unser Zusammentreffen, dass die wirkliche Katastrophe auslöste.

      Von dem Parkplatz des Konzerthauses aus, der unsere letzte Station unserer Musicaltour war, fahre ich durch einen trostlosen und leeren Stadtteil von Köln. Ich bin eigentlich nur auf der Suche nach einem Platz, an dem ich erneut parken kann, ohne dass mich einer meiner Begleiter von dem Musical wieder aufmischt. Ich hatte mich von niemandem verabschiedet und war klammheimlich abgehauen. Nur Kai und Arno hatten meinen Aufbruch bemerkt. Ich weiß, ich bin feige weggelaufen. Aber ich hätte einfach keinen großen Abschied verkraftet, ohne das allen klargeworden wäre, dass ich ihnen in den letzten Wochen nur etwas vorgespielt hatte.

      Um diese nächtliche Stunde ist nicht mehr viel in der Stadt los und ich warte auf einer fast leeren, kleinen Kreuzung an einer roten Ampel darauf, dass ich weiterfahren kann. Wohin weiß ich nicht mal. Ich fühle mich noch nicht in der Lage, klar zu entscheiden, was ich jetzt tun soll - wohin ich mich wenden soll. Außerdem ist es bitterlich kalt draußen und die kleine Fahrt durch die Stadt lässt das Auto kaum wärmer werden. Ich brauche also erst mal einen Ort, an dem ich bleiben kann und an dem ich überlege, was ich jetzt mit meinem Leben anfangen soll.

      Endlich wird die Ampel grün und ich setze den Blinker und fahre rechts in die Straße hinein, obwohl ich eigentlich vorhatte, der Hauptstraße zu folgen. Ein kleines Hotel erscheint auf meiner Straßenseite und ich überlege nur kurz, dann steuere ich meinen Mercedes auf den kleinen Parkplatz und lasse den Motor ausgehen. Vielleicht sollte ich hier nach einem Zimmer fragen und einfach noch einige Zeit in Köln bleiben?

      Natürlich hatte ich heute Vormittag in dem Hotel, in dem ich die letzten fünf Tage