Mark Lanvall

Lichtsturm IV


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Welt katapultiert worden waren, dass ihnen noch der Kopf schwirrte - so wie Kristin zum Beispiel.

      Aber: Worüber beschwerte sich Natalie eigentlich? Es ging doch den Verwandelten auch nicht viel besser als ihr - Ben inklusive. Alles hier war auch für sie fremd, bombastisch, manchmal bedrohlich. Sie war keine Ausnahme. Und immerhin waren sie wenigstens zusammen, Ben und sie. Zusammen in einem großzügigen Zimmer, das eine Aussicht hatte, die selbst die Hotelmanager des Burj al Arab zum Schwärmen gebracht hätte. Vielleicht sollte sie es tatsächlich mal so sehen: Solange keine feindlichen Soldaten angriffen, war das hier wie ein exotischer Urlaub. Einer, in dem sich zur Abwechslung mal die anderen um alles kümmern mussten.

      Und sie hatte endlich die Chance, sich einer Frage zu widmen, die sie schon lange beschäftigte: Was zum Teufel war die Anderswelt? In Kristin hatte sie da die perfekte Verbündete gefunden. Sie war ebenso neugierig und aufgabenfrei wie sie. Sie hatte genau den wissenschaftlichen Background, der noch fehlte. Und sie war im Fragenstellen genauso erbarmungslos wie Natalie. Gemeinsam würden sie den ehrwürdigen Geysbin knacken. Wenn das überhaupt möglich war.

      „Wie kann ich dir helfen, Natalie?“, fragte der Albe, nachdem der Kriegsrat vorbei war und die anderen weg waren. Sie hatten den Mindrai’Coosna auf dem gleichen Weg verlassen, auf dem sie ihn gut eine halbe Stunde zuvor auch betreten hatten - über eine schmale Wendeltreppe, die dicht an der Bergspitze entlang hinab in die Festung führte. Natalie hatte Ben aufgetragen, Kristin, die unten wartete, nach oben in den Saal zu schicken. Und so kam sie jetzt genau zum richtigen Zeitpunkt.

      „Ich würde dir gerne jemanden vorstellen, Geysbin. Das ist Kristin.“

      Der Großmeister des Lichts erhob sich und hieß die Besucherin mit einem warmen Lächeln und einem Nicken willkommen. Dann zeigte er auf einen der freien Lehnstühle.

      „Nimm Platz, Kristin. Ich habe gehört, was dir bei deiner Ankunft in Lysin’Gwendain widerfahren ist. Und ich bedaure sehr den Tod deiner Begleiterin. Es ist unverzeihlich, dass wir diesen Angriff nicht vorhergesehen und unterbunden haben.“

      Kristin nickte zurück und setze sich unumwunden. Natalie war beeindruckt, dass es ihr offenbar gelungen war, den umwerfenden Eindruck, den der Raum der Sonne bisher noch auf jeden gemacht hatte, auszublenden. Vielleicht eine Fähigkeit, die sie in ihrem Job gelernt hatte: Fokussieren und Prioritäten setzen. Und da standen nun mal Geysbin und seine Geheimnisse ganz vorne. Trotzdem war Kristin auch schlau genug, nicht gleich mit der Türe ins Haus zu fallen.

      „Ich nehme an, dass auch ihr euch das anders gewünscht habt. Und ich habe immerhin auf diese Weise frühzeitig begriffen, dass sich der Krieg auch in dieser Welt nicht an Spielregeln hält.“

      „Das tut er niemals“, stimmte Geysbin zu. „Und im Gegenteil zu anderen Spielen kennt er keine Sieger, nur Verlierer.“

      „Den Eindruck habe ich allerdings auch“, sagte Kristin. „Wenn denn alles stimmt, was mir Maus und Viktoria in München erzählt haben, dann hängen der Irrsinn in meiner Welt mit dem in dieser unmittelbar zusammen.“

      „Das ist richtig. Es sind die Folgen einer Kette von Fehlern, deren Anfang in der fernen Vergangenheit liegt. Und ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich keinen Anteil daran gehabt hätte.“

      Geysbin senkte die Augen. Seine Schuldgefühle waren echt. Natalie wusste das. Sie hatte ihn erlebt, kurz, nachdem er und seine Tochter Larinil in Kärnten in einer Höhle aufgewacht waren - nach so vielen Jahrhunderten Schlaf. Damals war Geysbin ein verwirrter alter Mann gewesen, der gerade versehentlich die Verwandlung Hunderter ahnungsloser Menschen ausgelöst hatte. Eine Panne, wenn man so will. Aber eine, die diesen uralten Krieg wieder zum Lodern gebracht hatte. Pieter van den Berg alias Druidenhäuptling Bram hatte den Kampf gegen die Verwandelten eröffnet, Sardrowain hatte ihn weitergeführt. Seitdem floss in beiden Welten Blut.

      „Kristin weiß, was passiert ist, Geysbin. Es geht uns aber nicht darum, einen Schuldigen zu finden. Das spielt für uns keine Rolle“, sagte Natalie. „Aber wir wollen begreifen. Wir wollen wissen, wie die Dinge zusammenhängen, was die Kraft des Lichts ist, wo wir hier sind in dieser geheimnisvollen Welt. Kristin und ich sind Forscherinnen. Wir wollen verstehen, lernen und unsere Schlüsse für die Zukunft daraus ziehen.“

      Geysbin presste die Lippen aufeinander und faltete die Hände über seinem Bauch zusammen. Er mochte das Thema nicht. Das war offensichtlich.

      „Ich verstehe“, antwortet er leise. „Viele Fragen, deren Antworten so tief in der Finsternis verborgen sind, dass ihr euch fragen solltet, ob es gut ist, sie daraus zu befreien.“

      „Großmeister Geysbin“, sagte nun Kristin. „Natalie hat es ja schon angedeutet: Schuld, Moral, Unrecht oder nicht. Das sind nicht die Kategorien, in die wir die Dinge einordnen. Wir sammeln Fakten. Wir sind an der Wahrheit interessiert.“

      „Die Wahrheit?“ Geysbin lachte bitter. „Wessen Wahrheit? Fragt Sardrowain, ob dieser Krieg richtig ist! Er wird es gut begründen, wird euch erklären, dass es den Elvan jal’Iniai bestimmt ist, über die Menschen zu herrschen. Fragt aber dagegen die Mächtigen unter den Menschen! Sie werden euch erklären, warum sie ihr Volk vor den Elvan jal’Iniai mit allen Mitteln schützen müssen. Sie alle werden sich auf die Wahrheit berufen. Die Wahrheit ist nicht der Fels, der im Strom des Flusses liegt, sondern das Wasser, das ihn umspült. Müssen wir also nicht unsere eigene Wahrheit finden und hoffen, dass wir die richtigen Taten davon ableiten?“

      Gut gesagt, dachte Natalie. Wie immer, wenn Geysbin seine Sicht auf die Welt erklärte. Er war klug. Und er blickte lieber auf die Gegenwart und die Zukunft als auf die Vergangenheit. Natalie konnte ihm das nicht verübeln. Sie wusste von Larinil, dass er vor einer Ewigkeit zu den Bösen gehört hatte. Dass er Menschen ermordet und unterdrückt hatte. Und dass er dieses Kapitel gerne geschlossen hätte.

      Wenn er das nicht wollte, dann würde Geysbin ihr seine Geschichte nicht erzählen. Schon gar nicht, wenn er davon überzeugt war, dass sie in ihrer momentanen Lage keine Rolle spielte. Aber ein paar direkte Fragen würde er vielleicht beantworten, hoffte Natalie. Solche, die mit seiner dunklen Vergangenheit nicht unmittelbar zu tun hatte. Sie beschloss, es zu versuchen.

      „Ich habe gehört, dass dich viele der Alben hier ‚Gründer‘ nennen und dich als einen der Urväter Lysin’Gwendains geradezu verehren. Ist das auch eine dieser austauschbaren Wahrheiten?“

      Jetzt lächelte Geysbin. Vermutlich wegen ihrer Forschheit. Und wegen des durchschaubaren Versuchs, ihn mit einer Behauptung dazu zu bringen, etwas preiszugeben.

      „Ich verstehe. Ihr wollt wissen, ob es stimmt, dass ich und einige andere Lysin’Gwendain einst erschaffen haben. Nun, tatsächlich glauben das viele Elvan jal’Iniai und so ist es wohl auch in einem der dicken Bücher im Grünen Gewölbe San’tweynas niedergeschrieben. Eine Wahrheit von mehreren. Was glaubst du Kristin? Ist es nicht deine Aufgabe, dich mit fremden Welten zu beschäftigen? Denkst du, ich bin so etwas wie ein Weltenerbauer?“

      Kristin zog die Augenbrauen hoch und kratzte sich an der Schläfe. Wenn ihr das Gespräch unangenehm war, dann ließ sie sich das nicht anmerken. Natalie glaubte aber eher an das Gegenteil: Kristin genoss es, mit einem vier Jahrtausende alten Alben zu fachsimpeln.

      „Wenn ich ehrlich bin: Viele Weltenerbauern bin ich in meiner Zeit als Astrophysikerin noch nicht über den Weg gelaufen. Ich schätze aber mal, sie müssten ganz furchtbar mächtig sein. Wir reden hier von Planeten, die in genau dem richtigen Abstand um einen Stern kreisen. So was funktioniert nicht mit ein paar Brettern und Nägeln aus dem Baumarkt.“

      „Und du glaubst nicht, dass ich diese Macht besitze?“

      „Um ehrlich zu sein: nein. Du gibst zu, Fehler gemacht zu haben. Du steckst mitten in einem Krieg und überlegst, wie wir alle aus diesem wieder heil herauskommen. Versteh mich nicht falsch, Großmeister Geysbin. Ich trau dir sehr viel zu. Aber allmächtig bist du nicht. Sonst hätten wir hier ein paar Probleme weniger.“

      Geysbin lachte zu Natalies Erleichterung. Dem alten Alben schien das Thema nun doch noch zu gefallen. Humor half in solchen Situationen also. Auch bei Alben.

      „Du