Norbert Schimmelpfennig

Das Tor vorm Moor und hinterm Schatz


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viel los sein!“

      „Floriane“, sagte ihre Mutter. „Darum geht es diesmal doch wirklich nicht, auf einer Kur soll er nachts viel schlafen!“

      Dennoch war dem Elfjährigen nicht wohl bei dem Gedanken, erstmals ohne seine Familie weg zu fahren, was an seiner Miene und seiner gekrümmten Haltung leicht zu erkennen war.

      Sein Vater, der sogar hier im Haus ein graues Jackett trug, das ziemlich gut zu seinem langsam grau werdenden Vollbart passte, erklärte ihm:

      „Wir verstehen dich ja; auch mir erging es einmal ähnlich, als im Krieg die Bomben auf die Städte geworfen und so viele Kinder in meinem Alter an die See geschickt wurden.“

      Da sahen seine Kinder neugierig zu ihm hin, und der Vater fuhr fort:

      „Die ersten Tage waren erst einmal schwer; aber schon nach etwa einer Woche war ich so schön am Spielen mit den anderen Kindern, dass ich gar nicht mehr so viel dazu kam, an Zuhause zu denken ...“

      Thombi wohnte im fünften Stock eines Hochhauses, in einer Wohnung mit zwei Zimmern – einem Wohn- und Esszimmer mit Küche sowie einem Schlafzimmer für alle: Seinen Vater, seine Mutter, ihn und Peggy, seine fünfjährige Schwester, die er gerne „Pippi“ nannte.

      Es roch wieder einmal nach Schnaps in der Wohnung, da die Mutter an diesem Nachmittag im Supermarkt arbeitete und den Vater nicht vom Trinken abhalten konnte. Die Blümchentapete an den Wänden war an vielen Stellen abgerissen, dafür klebten über solchen Stellen Bilder von der Fußballweltmeisterschaft 1974. Ein Glück, dass sich der Hauswirt nie blicken ließ! Den Lärm von der Straße hörte man hier nicht so sehr, dafür immer wieder die S-Bahn, die zwischen den Häusern hindurch fuhr.

      So auch jetzt; und der Vater wachte davon nicht einmal auf, sondern blieb zusammengesunken auf dem Sofa sitzen.

      Wie gut, dachte sich Thombi, da werden die Pippi und ich Die Biene Maja ohne weiteres sehen können!

      Momentan spielte die Kleine im Schlafzimmer mit ihren Puppen und seinen Autos – beides interessierte sie gleichermaßen. Auf diese Weise konnte sie sich selbst beschäftigen, wenn gerade niemand Zeit für sie hatte.

      Sollte er jetzt Schularbeiten machen? Würde heute niemand kontrollieren – andererseits ließ ihn gerade in diesen Tagen der Gedanke nicht los, dass er eigentlich aufs Gymnasium wollte! So holte er die Aufgaben aus der Schultasche.

      Später ging er ins Schlafzimmer, und seine Schwester begrüßte ihn:

      „Thomi, sieh, wie die Puppu Auto fährt!“

      „Das macht sie sehr schön, wird später alle Autorennen gewinnen! Jetzt aber gibt es etwas Schönes im Fernsehen!“

      „Bei Professor Flimmrich?“

      „Nein, aber eine Zeichentrickserie von einer süßen Biene!“

      „Au ja, mach an!“

      Tatsächlich konnten die beiden sich auf das Sofa kuscheln und den Fernseher einschalten, ohne dass der Vater etwas merkte.

      Nur schade, dass sie die Bilder nicht in Farbe sehen konnten; einen neuen Fernseher konnten sie sich nun einmal nicht leisten!

      Auch Yxick wollte sich gerne Die Biene Maja anschauen. Den ganzen Tag über hatte er immer wieder die Prospekte vom Kurheim und dessen Umgebung studiert.

      Vater saß im Arbeitszimmer, und Mutter telefonierte mit einer Freundin. Nur seine Schwester saß noch im Wohnzimmer und fragte ihn:

      „Freust du dich denn jetzt mehr auf deine Reise?“

      „Reise ist gut – aber jetzt möchte ich fernsehen!“

      „Etwa Die Biene Maja? Pass aber auf – du hast dich doch immer vor Tieren gefürchtet, die einen Stachel haben; und Bienen können auch stechen!“

      „Fürchtet sich davor nicht jeder manchmal? Außerdem bin ich alt genug, um zu wissen, dass die Bienen nicht aus dem Fernseher herausfliegen!“

      „Bei dir schien mir die Angst vor dem Stachel immer besonders stark zu sein!“, sagte sie und fragte noch:

      „Weißt du denn noch, was ein gleichseitiges Dreieck ist?“

      Yxick erwiderte:

      „Ja, ein Dreieck, bei dem die drei Winkel sechzig Grad betragen und alle Seiten gleich lang sind! Also, schalt jetzt den Fernseher ein!“

      Dies tat seine Schwester dann auch; und sie sahen die erste Folge mit der Biene aus einem unbekannten Land, die einfach ihren Stock verließ.

      In der Nacht wachte Yxick plötzlich auf. Von draußen schien der Mond durch eine Lücke im Vorhang ins Zimmer. Die Leuchtzeiger des Weckers zeigten drei Uhr morgens. Yxick meinte, gerade vor einer Prüfungsaufgabe gesessen zu haben – doch das war wohl nur ein Traum gewesen!

      Vielleicht konnte er besser wieder einschlafen, wenn er den Vorhang ganz zuzog. So eine große Dunkelheit verursachte ihm zwar ein beklemmendes Gefühl, doch blieb momentan wohl nichts anderes übrig! So stand er auf und trat ans Fenster.

      Doch als er hinaus sah, kam es ihm vor, als ob sich etwas vor der fast noch vollen Mondscheibe bewegte, quasi daran vorbei flog! Es sah aus wie etwas mit einem Stachel, aber auch mit einem Schlangenkopf ...

      So schnell wie das Ding aufgetaucht war, war es auch wieder verschwunden. Doch Yxick war sich sicher, nicht zu träumen ...

      Jetzt aber zog er die Vorhänge ganz zu und legte sich wieder hin, war bald wieder eingeschlummert, wie von einer besonders starken Müdigkeit überfallen.

      Als das Schuljahr auch für ihn wieder begonnen hatte, sprach es sich in den ersten Tagen bereits herum, dass Yxick für sechs Wochen weg sein würde.

      Gerade war die fünfteilige Serie „Die merkwürdige Lebensgeschichte des Friedrich Freiherr von der Trenck“ im Fernsehen gelaufen; und so fragte Karli aus seiner Klasse:

      „Wirst du dich denn da auch so fühlen wie Trenck, gefangen in der Festung?“

      Da meinte Didi, ebenfalls ein Klassenkamerad:

      „Yxick, komm heute Abend mit zum Bahnhof, da ritzen wir ein Andenken für dich ein – soll dir Mut zur Rückkehr geben, so wie Trenck ja auch freikam!“

      Während einer Zeitspanne also, in der keine Züge an dem Kleinstadtbahnhof hielten, begaben sich ein paar aus der Klasse auf den Bahnsteig. Einige von ihnen stellten sich zur Deckung im Kreis auf, während zwei andere eine Zeichnung in einen Pfeiler ritzen wollten, mit einem Totenkopf, ein paar Kettengliedern und der Unterschrift „TRENCK“.

      Leider hatte keiner von ihnen ein richtig scharfes Messer dabei, so dass sie die Zeichen nur undeutlich ritzen konnten.

      Da entdeckten sie am gegenüberliegenden Bahnsteig einen großen schlanken Jungen mit langen schwarzen Haaren, der in der Schule ein paar Klassen über ihnen war, in der zehnten oder elften. Mecki, ein dünner blonder Junge aus ihrer Klasse, kannte diesen Jungen etwas näher und erklärte den anderen:

      „Der lungert hier öfter herum, hält sehnsüchtig nach Zügen Ausschau, die weit in die Ferne fahren. Mit Nachnamen jedenfalls heißt er ,Schneidmann‘, und er scheint manchmal echt gutes Werkzeug dabei zu haben!“

      Jetzt rief er hinüber:

      „He, Schneidmann, komm mal rüber zu uns!“

      Der Angesprochene sah mit zusammengezogenen Augenbrauen zu ihnen hin, deutete mit einem fragenden Gesichtsausdruck auf sich selbst, worauf Mecki rief:

      „Ja, wir meinen dich!“

      Da kam er herüber; und jetzt sagte Pitti, ein dicker schwarzhaariger Junge aus Yxicks Klasse:

      „Du hast ja wirklich ein schönes Taschenmesser; dürften wir dies mal kurz ausleihen? Wir wollen hier nur etwas einritzen, so wie du auch!“

      Schneidmann grinste und reichte ihnen sein Messer. Damit