sein mochte. Die Nachricht vom Tode des Ingenieurs drang nicht bis nach Afrika. Nach geraumer Zeit verlor Juliette auch noch die Mutter; nun machte sie sich auf in das sehr ferne, sicherlich sehr wundervolle Deutschland. Sie hoffte, dort von der väterlichen Liebe lanciert zu werden. Indessen konnte man ihr nicht einmal das Grab des Ingenieurs zeigen; die Gebeine ihres armen Vaters waren verloren gegangen, wie sein Andenken.
Ein Glück für die junge Juliette, daß sie leidlich Steptanzen konnte: sie hatte es noch bei den Ihren gelernt. So gelang es ihr, bald eine Anstellung in einem der besten Etablissements von St. Pauli zu finden. Dort hätte sie sich sicherlich halten können, und vielleicht wäre der gescheiten und energischen Person ein ehrenvoller Aufstieg beschieden gewesen – hätten nur ihr heftiges Temperament und eine unbeherrschbare Neigung für starke Getränke ihr nicht den allerfatalsten Strich durch die Rechnung gemacht. Sie liebte es und konnte es gar nicht lassen, mit der Reitpeitsche auf diejenigen ihrer Bekannten und Kollegen loszugehen, mit denen sie gerade nicht in allen Stücken der gleichen Meinung oder Stimmung war –: eine Angewohnheit, über die man in St. Pauli-Kreisen sich zunächst wie über eine humoristische und niedliche Nuance ergötzte, die aber auf die Dauer gar zu originell und übrigens einfach störend wurde.
Juliette bekam ihre Entlassung, und erlebte nun, in unbesorgt geschwindem Tempo, das, was man gemeinhin »von-Stufe-zu-Stufe-sinken« nennt; das heißt: sie mußte ihre Tanzkünste in immer kleineren, immer übler beleumundeten Lokalen zeigen. Ihre Einnahmen aus solcher Tätigkeit wurden nach und nach so gering, daß sie sich bald gezwungen sah, ihnen durch Nebenverdienste aufzuhelfen. Welche Beschäftigung kam in Frage, wenn nicht die des abendlichen Spaziergangs auf der Reeperbahn und in den benachbarten Gassen? Ihr schöner, dunkler Körper, den sie im aufrechten, stolzen, ja fast hochmütigen Gang über das Trottoir bewegte, war wahrhaftig nicht das schlechteste Stück von diesem ungeheuren Ausverkauf der Leiber, der sich hier allnächtlich den durchreisenden Matrosen und den armen wie den ehrenwerten Männern der Stadt Hamburg bot.
Der Schauspieler Höfgen übrigens hatte die Bekanntschaft seiner Schwarzen Venus keineswegs auf dem Strich gemacht; vielmehr in der engen, vom Tabaksqualm und vom Lärm besoffener Schiffer erfüllten Kneipe, wo sie, für eine Abendgage von drei Mark, ihre dunklen, glatten Glieder und ihre kunstvoll klappernden Steps zur Schau stellte. Auf dem Programm des finsteren Kabaretts war die schwarze Tänzerin Juliette Martens als »Prinzessin Tebab« angezeigt – ein Name, den sie nur als Künstlerin führen durfte, auf den sie aber auch im zivilen Leben Anspruch zu haben behauptete. Durfte man ihren Angaben Glauben schenken, so war ihre verstorbene Mutter, die verlassene Geliebte des Hamburger Ingenieurs, von rein fürstlichem Blute gewesen: Tochter eines veritablen, unermeßlich reichen, großmütigen und leider in relativ zartem Alter von seinen Feinden verspeisten Negerkönigs.
Was Hendrik Höfgen betrifft, so war er weniger von ihrem Titel beeindruckt gewesen – obwohl auch dieser ihm ganz außerordentlich gefallen hatte –, als vielmehr von ihren beweglichen, grausamen Augen und von den Muskeln ihrer schokoladenfarbenen Beine. Nachdem die Nummer der Prinzessin Tebab beendet gewesen war, hatte er sich in der Garderobe der Künstlerin melden lassen, um ihr seinen – zunächst vielleicht etwas überraschend klingenden – Wunsch vorzutragen: nämlich den, Tanzstunden bei ihr zu nehmen. »Heute muß ein Schauspieler trainiert sein, wie ein Akrobat,« hatte Höfgen erklärend hinzugefügt; aber die Prinzessin schien nicht sehr begierig auf seine Erläuterungen. Ohne sich lang zu verwundern, hatte sie den Preis pro Stunde und das erste Rendezvous verabredet.
So war die Beziehung zwischen Hendrik Höfgen und Juliette Martens entstanden. Das dunkle Mädchen war die »Lehrerin« – also die Herrin –; vor ihr stand der bleiche Mann als der »Schüler« – als der Gehorchende, sich-Erniedrigende, der die häufige Strafe mit der gleichen Demut empfängt wie das seltene, karge Lob.
»Blicke mich an!« verlangte Prinzessin Tebab und rollte schrecklich die Augen, während die seinen, zugleich begehrend und furchtsam, an ihrer gebieterischen Miene hingen.
»Wie schön du heute bist!« brachte er schließlich hervor, wobei ihm die Lippen nur mühsam zu gehorchen schienen.
Sie fuhr ihn an: »Laß den Unsinn! Ich bin nicht schöner als sonst.« Dabei strich sie sich aber doch eitel über den Busen und zupfte ihr enges, plissiertes Röckchen zurecht, das kurz oberhalb der Knie endete. Vom schwarzen Seidenstrumpf war nur ein knappes Stück sichtbar; denn die grünen Schaftstiefel aus geschmeidigem Lackleder reichten bis über die Waden. Zu den schönen Stiefeln und dem kurzen Rock trug die Prinzessin ein graues Pelzjäckchen, dessen Kragen im Nacken hochgeschlagen war. An den dunklen, sehnigen Handgelenken klirrten breite Armbänder aus gemeinem Goldblech. Das eleganteste Stück ihrer Ausstattung war die Reitpeitsche – ein Geschenk Hendriks. Sie war leuchtend rot, aus geflochtenem Leder. Juliette klopfte mit ihr, in einem kurzen, harten und drohenden Rhythmus, gegen die grünen Schaftstiefel.
»Du bist wieder eine Viertelstunde zu spät,« sagte sie, nach einer langen Pause, die niedrige und zu zwei kleinen Buckeln gewölbte Stirne in böse Falten gelegt. »Wie oft soll ich dich noch warnen, mein Süßer?« fragte sie tückisch-leise, um dann in unvermitteltem Zorne loszubrechen: »Es ist genug!! Ich habe es satt! Gib mir deine Pfoten!«
Hendrik hob langsam die beiden Hände, deren Innenflächen er nach oben wandte. Dabei ließ er seine hypnotisierten, aufgerissenen Augen nicht von der ergrimmten, schauerlichen Fratze der Geliebten.
Sie zählte mit einer grellen, plärrenden Stimme: »Eins, zwei, drei!«, während sie zuhieb. Das Geflecht der eleganten Peitsche pfiff grausam quer über seine Handflächen, auf denen sofort dicke rote Striemen entstanden. Der Schmerz, den er empfand, war so heftig, daß er ihm das Wasser in die Augen trieb. Er verzog den Mund; beim ersten Schlag schrie er leise; dann beherrschte er sich und stand mit einem starren, weißen Gesicht.
»Für den Anfang hast du genug,« sagte sie und zeigte plötzlich ein müdes Lächeln, welches durchaus gegen die Spielregeln ging: es hatte nichts fratzenhaft Grausames, sondern enthielt gutmütigen Spott und ein wenig Mitleid. Sie ließ die Peitsche sinken, wandte den Kopf und stand – das Gesicht im Profil – in einer schönen, traurigen Haltung. »Zieh dich um!« sagte sie leise. »Wir wollen arbeiten.«
Es gab keinen Paravent, hinter dem er hätte verschwinden können, als er die Kleidung wechselte. Unter halbgesenkten Lidern, mit einem übrigens völlig uninteressierten Blick, beobachtete Juliette jede seiner Bewegungen. Er mußte alles ablegen und ihr seinen hellen, schon etwas zu fetten, rötlich behaarten Körper zeigen, ehe er in den ärmellosen, blau und weiß gestreiften Sweater und in das schwarze Turnhöschen schlüpfte. Schließlich stand er vor ihr in der unwürdigen Tracht, die er seinen »Trainingsanzug« nannte – in der kindischen und ridikülen Aufmachung, bestehend aus schwarzen, ausgeschnittenen Halbschuhen mit weißen Söckchen, die oberhalb der Knöchel kokett umgerollt waren; aus dem kurzen Höschen, von glänzend schwarzem Satin – wie die kleinen Buben es in der Turnstunde tragen – und dem gestreiften Hemd, das Hals und Arme entblößt ließ.
Sie musterte ihn, kritisch und kalt. »Du bist seit voriger Woche noch etwas dicker geworden, mein Süßer,« konstatierte sie, wobei sie mit der Peitsche höhnisch gegen ihre grünen Stiefel klopfte.
»Entschuldige,« bat er leise. Sein weißes Gesicht, mit der strengen Linie des Kinns, den empfindlichen Schläfen und den schön geschnittenen, klagenden Augen, behielt seinen ganzen Ernst und eine fast tragische Würde über dem grotesk hergerichteten Körper.
Die Schwarze machte sich am Grammophon zu schaffen. In die Jazzmusik hinein, deren rhythmischer Lärm plötzlich einsetzte, sagte sie rau: »Fang schon an!« Dabei fletschte sie die beiden Reihen ihrer gar zu weißen Zähne und bewegte grimmig die Augen: dies genau war das Mienenspiel, das er jetzt von ihr erwartete und verlangte.
Ihr Gesicht stand vor ihm wie die schreckliche Maske eines fremden Gottes: Dieser thront mitten im Urwald, an verborgener Stelle, und was er fordert mit seinem Zähneblecken und Augenrollen, das sind Menschenopfer. Man bringt sie ihm, zu seinen Füßen spritzt Blut, er schnuppert mit der eingedrückten Nase den süß vertrauten Geruch, und er wiegt ein wenig den majestätischen Oberkörper nach dem Rhythmus des wild bewegten Tamtams. Um ihn vollführen seine Untertanen den verzückten Freudentanz. Sie schleudern die Arme und Beine,