Gustave Le Bon

Psychologie der Massen (Gustave Le Bon)


Скачать книгу

sogar in viel höherem Maße als der einzelne. Wir werden beim Studium der Massenmoral bald Gelegenheit haben, auf diesen Punkt zurückzukommen.

      Da die Masse nur durch übermäßige Empfindungen erregt wird, muß der Redner, der sie hinreißen will, starke Ausdrücke gebrauchen. Zu den gewöhnlichen Beweismitteln der Redner in Volksversammlungen gehört Schreien, Beteuern, Wiederholen, und niemals darf er den Versuch machen, einen Beweis zu erbringen.

      Die gleiche Ubertreibung der Gefühle verlangt die Masse von ihren Helden. Ihre Eigenschaften und hervorragenden Tugenden müssen stets vergrößert werden. Im Theater fordert die Masse von dem Helden des Dramas Tugenden, einen Mut und eine Moral, wie sie im Leben niemals vorkommen.

      Man spricht mit Recht von der besonderen Optik des Theaters. Zweifellos ist sie vorhanden, aber ihre Gesetze haben nichts mit dem gesunden Menschenverstand und der Logik zu tun. Die Kunst, zur Masse zu sprechen, ist von untergeordnetem Rang, erfordert jedoch ganz besondere Fähigkeiten. Beim Lesen gewisser Stücke kann man sich ihren Erfolg oft nicht erklären. Im allgemeinen sind die Theaterdirektoren selbst über den Erfolg sehr im Ungewissen, wenn ihnen die Stücke eingereicht werden, denn um urteilen zu können, müßten sie sich in eine Masse verwandeln1. Wenn wir uns mit Einzelheiten befassen könnten, wäre es leicht, auch noch den bedeutenden Einfluß der Rasse aufzuzeigen. Das Drama, das in dem einen Lande die Masse begeistert, hat oft in einem andern keinen oder nur einen durchschnittlichen Achtungserfolg, weil es nicht die Kräfte spielen läßt, die das neue Publikum bewegen könnten.

      Ich brauche nicht besonders zu betonen, dass der Überschwang der Massen sich nur auf die Gefühle und in keiner Weise auf den Verstand erstreckt. Die Tatsache der bloßen Zugehörigkeit des einzelnen zur Masse bewirkt, wie ich bereits zeigte, eine beträchtliche Senkung der Voraussetzungen seines Verstandes. In seinen Untersuchungen über die Massenverbrechen hat Tarde das gleichfalls festgestellt.

      § 4. Unduldsamkeit, Herrschsucht (Autoritarisme) und Konservatismus der Massen

      Die Massen kennen nur einfache und übertriebene Gefühle. Meinungen, Ideen, Glaubenssätze, die man ihnen einflößt, werden daher nur in Bausch und Bogen von ihnen angenommen oder verworfen und als unbedingte Wahrheiten oder ebenso unbedingte Irrtümer betrachtet. So geht es stets mit Überzeugungen, die auf dem Wege der Beeinflussung, nicht durch Nachdenken erworben wurden. Jedermann weiß, wie unduldsam die religiösen Glaubenssätze sind und welche Gewaltherrschaft sie über die Seelen ausüben.

      Da die Masse in das, was sie für Wahrheit oder Irrtum hält, keinen Zweifel setzt, andererseits ein klares Bewußtsein ihrer Kraft besitzt, so ist sie ebenso eigenmächtig wie unduldsam. Der einzelne kann Widerspruch und Auseinandersetzung anerkennen, die Masse duldet sie niemals. In den öffentlichen Versammlungen wird der leiseste Widerspruch eines Redners sofort mit Wutgeschrei und groben Schmähungen beantwortet, und wenn der Redner beharrlich ist, folgen leicht Tätlichkeiten, und der Redner wird hinausgeworfen. Ohne die einschüchternde Anwesenheit der Sicherheitsbehörde würde man oft den Gegner lynchen. Herrschsucht und Unduldsamkeit finden sich bei allen Arten der Massen, aber in ganz verschiedenen Graden, und hier kommt wieder der Grundbegriff der Rasse zur Geltung, die alles Fühlen und Denken der Menschen beherrscht. Herrschsucht und Unduldsamkeit sind besonders bei den lateinischen Massen ausgebildet, und zwar in solchem Maße, dass es ihnen fast gelungen ist, das Gefühl der persönlichen Unabhängigkeit, das bei den Angelsachsen so mächtig ist, bei ihnen völlig zu vernichten. Die lateinischen Massen haben nur Gefühl für die Gesamt-Unabhängigkeit ihrer Sekte, und bezeichnend für diese Unabhängigkeit ist das Bedürfnis, alle Andersgläubigen sofort und gewaltsam für ihren eigenen Glauben zu gewinnen. Von der Inquisition angefangen, konnten sich bei den lateinischen Völkern die Jakobiner aller Zeiten niemals zu einem andern Freiheitsbegriff aufschwingen.

      Herrschsucht und Unduldsamkeit sind für die Massen sehr klare Gefühle, die sie ebenso leicht ertragen, wie sie sie in die Tat umsetzen. Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Güte, die sie leicht für eine Art Schwäche halten, nur mäßig beeinflußt. Niemals galten ihre Sympathien den gütigen Herren, sondern den Tyrannen, von denen sie kraftvoll beherrscht wurden. Ihnen haben sie stets die größten Denkmäler errichtet. Wenn sie den gestürzten Despoten gern mit Füßen treten, so geschieht das, weil er seine Macht eingebüßt hat und in die Reihe der Schwachen eingereiht wird, die man verachtet und nicht fürchtet. Das Urbild des Massenhelden wird stets Cäsarencharakter zeigen. Sein Helmbusch verführt sie, seine Macht flößt ihnen Achtung ein, und sein Schwert fürchten sie. Stets bereit zur Auflehnung gegen die schwache Obrigkeit, beugt sich die Masse knechtisch vor einer starken Herrschaft. Ist die Haltung der Obrigkeit schwankend, so wendet sich die Masse, die stets ihren äußersten Gefühlen folgt, abwechselnd von der Anarchie zur Sklaverei, von der Sklaverei zur Anarchie.

      Übrigens würde man die Psychologie der Massen ganz mißverstehen, wenn man an die Vorherrschaft ihrer revolutionären Triebe glaubte. Nur ihre Gewalttaten täuschen uns über diesen Punkt. Die Ausbrüche der Empörung und Zerstörung sind immer nur von kurzer Dauer. Die Massen werden zu sehr vom Unbewußten geleitet und sind also dem Einfluß uralter Vererbung zu sehr unterworfen, als dass sie nicht äußerst beharrend sein müßten. Wenn sie sich selbst überlassen werden, erlebt man bald, dass sie, ihrer Zügellosigkeit überdrüssig, instinktiv der Knechtschaft zusteuern. Die kühnsten und schroffsten Jakobiner stimmten Bonaparte entschieden zu, als er alle Freiheiten aufhob und seine eiserne Hand schwer fühlen ließ.

      Die Geschichte der Völkerrevolutionen ist fast unverständlich, wenn man die von Grund aus beharrenden Triebkräfte der Massen verkennt. Sie wünschen zwar die Namen ihrer Einrichtungen zu wechseln, und um diesen Wechsel zu vollziehen, machen sie zuweilen sogar große Revolutionen durch, aber der Kern dieser Einrichtungen ist zu sehr Ausdruck der erblichen Bedürfnisse der Rasse, als dass sie nicht immer wiederkehren müßten. Die unaufhörliche Veränderlichkeit der Massen erstreckt sich nur auf ganz äußerliche Dinge. In Wahrheit haben sie nicht weiter erklärbare Beharrungsinstinkte, und wie alle Primitiven eine fetischistische Ehrfurcht vor den Überlieferungen, einen unbewußten Abscheu vor allen Neuerungen, die ihre realen Lebensbedingungen ändern könnten. Hätte die Demokratie in der Zeit der Erfindung der mechanischen Webstühle, der Dampfmaschine, der Eisenbahnen, die Macht besessen, über die sie heute verfügt, so wäre die Verwirklichung dieser Erfindungen unmöglich gewesen. Es ist ein Glück für den Fortschritt der Kultur, dass die Übermacht der Massen erst dann geboren wurde, als die großen Entdeckungen der Wissenschaft und der Industrie vollendet waren.

      § 5. Sittlichkeit der Massen

      Wenn wir mit dem Begriff Sittlichkeit den Sinn für die Achtung vor gewissen sozialen Gebräuchen und die beständige Unterdrückung eigennütziger Antriebe verbinden, dann liegt es auf der Hand, dass die Massen zu triebhaft und veränderlich sind, um für Sittlichkeit empfänglich zu sein. Wenn wir aber unter dem Begriff der Sittlichkeit das augenblickliche Auftreten gewisser Eigenschaften, wie Entsagung, Ergebenheit, Uneigennützigkeit, Selbstaufopferung, Rechtsgefühl verstehen, so können wir sagen: die Massen sind oft eines sehr hohen Maßes von Sittlichkeit fähig.

      Die wenigen Psychologen, die sich mit dem Studium der Massen befaßt haben, taten es nur in bezug auf ihre verbrecherischen Handlungen. Und in Anbetracht der Häufigkeit solcher Taten haben sie die Massen als sittlich sehr tiefstehend beurteilt.

      Gewiß erbringen sie oft den Beweis dafür: aber wie kommt das? Nur weil die Triebe zerstörerischer Wildheit Überreste aus der Urzeit sind, die in jedem von uns schlummern. Für den einzelnen wäre es zu gefährlich, diese Triebe zu befriedigen, während ihm sein Untertauchen in einer unverantwortlichen Masse, durch die ihm Straflosigkeit gesichert ist, völlige Freiheit der Triebbefriedigung gewährt. Da wir diese Zerstörungstriebe gewöhnlich nicht an unseren Mitmenschen ausüben können, so beschränken wir uns darauf, sie an Tieren auszulassen. Derselben Quelle entspringen die Jagdleidenschaft und die Grausamkeit der Massen. Die Masse, die ein wehrloses Opfer langsam zu Tode quält, gibt den Beweis feiger Grausamkeit; für den Philosophen aber ist sie in hohem Maße mit der Grausamkeit der Jäger verwandt, die dutzendweise zusammenkommen, um mit Vergnügen zu sehen, dass ihre Hunde einem unglücklichen Hirsch den Bauch aufreißen.

      Wenn nun die Masse imstande ist, Mordtaten, Brandstiftungen und Verbrechen aller Art zu begehen, so ist sie ebenso