Carl Bloem

Motorcycle Memories


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trotzte und von unten nach oben meine Sachen durchfuhr. Ich war nass, müde und kalt. Dörfer mit Namen wie Elwka, Sappho und Beaver waren an mir vorübergezogen und hatten doch keine Erinnerung hinterlassen.

      Meine Hände zitterten. Es war spät. Ich quälte mich von meinem Motorrad herunter und versuchte mehrfach die Maschine aufzubocken. Der Boden war aber so weich, dass mir der Hobel dabei immer wieder zur Seite wegbrach. Mit letzter Kraft stellte ich das Krad an einen Baum und versuchte im Scheinwerferlicht die Zeltstangen zu organisieren. Nach einer halben Stunde stand das Zelt, meine Füße steckten im Schlafsack und mein Kopf fiel mit einem dumpfen Klatschen auf den nassen Boden.

      Wo ist eigentlich meine Taschenlampe? Über diese Frage schlief ich schließlich ein.

      Die Brandung weckte mich kurz nach Morgengrauen. Ich öffnete ein Auge und sah Licht durch die Zeltplane. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Es war etwas mit den Augen. Dem rechten Auge. Es war zu und verklebt und ließ sich nicht öffnen. Ich suchte nach einem Spiegel und wurde langsam nervös.

      Was ist mit dem Auge?, dachte ich. Warum sehe ich nichts? Wo ist der Spiegel? Habe ich überhaupt einen Spiegel?

      Die Gedanken tanzten wild durch meinen Kopf und brachten mich in Schwung. Mir fiel ein, dass ich gar keinen Spiegel dabei hatte, nicht hier, hier im Zelt, aber natürlich am Motorrad. Ich öffnete den Reißverschluss vom Schlafsack, öffnete das Zelt und richtete mich draußen zu meiner ganzen Größe auf. Bei meinem Blick nach vorne überfiel mich Schwindel. Der Pazifik lag vor mir groß und gewaltig und nichts trennte mich mehr von ihm außer zwei Fuß breit stoppeliger Erde. Ich fiel rückwärts über das Zelt, griff reflexartig nach den Stangen und Schnüren und kauerte mich auf dem Boden zusammen. In der kompletten Dunkelheit der Nacht bei dem strömenden Regen war mir dieses wichtige Detail wohl entgangen, die Klippe.

      Ich kroch zurück zum Rand und schaute hinunter. Es ging etwa fünfzehn Meter steil nach unten. Unter mir lagen ein paar lose Felsen. Der Sand war blass gelb, die Steine grau und die Stimmung in meinem Magen hätte ich mit der Farbe grün beschrieben. Das wäre mein Ende gewesen. Dort unten auf dem Steinhaufen im fahlen Licht irgendeines Morgens hätte mich eine Kleinfamilie aus Idaho bei der Suche nach der schönsten Muschel des Ozeans entdeckt. Ein ausgemergelter, klatschnasser Leichnam in einem Australian Duster, englischen Doc Martens, einem T-Shirt der New York Mets und mit einem Helm des Seattle Police Department. Was für einen herrlichen Anblick hätte ich dort abgegeben, an diesem ruhigen Ort.

      Die Wellen schlugen gegen den flachen Strand und auf einer kleinen vorgelagerten Insel, die mehr wie ein großer achtlos hingeworfener Stein aussah, standen ein paar verlorene Bäume. Die See war rau und zeugte noch von dem Sturm vergangener Nacht. Es war nicht ungewöhnlich, dass ich in meinen Stiefeln schlief, aber dass ich noch den Helm trug, las sich für mich beim genaueren Betrachten meiner geschriebenen Notizen doch etwas ungewöhnlich. Aber was machte es schon?

      Ich lebte, zumindest scheinbar und hauptsächlich. Irgendetwas war mir doch im Kopf herumgegangen, bevor das alles passiert war, bevor ich aus dem Zelt kam.

      Was war das noch?

      Ich drehte mich auf den Rücken und starrte in den Himmel. Hier sah alles normal aus. Der Himmel hing am rechten Platz und auch wenn mir die neu aufziehenden Regenwolken gar nicht gefielen, so war ich doch froh, dass alles seine Ordnung hatte. Zumindest dort oben. Hier unten war ich vollends mit Dingen beschäftigt, die meine morgendliche geistige Flexibilität aufs Äußerste strapazierten und ich konnte mich immer noch nicht daran erinnern, warum ich eigentlich so rasch das Zelt verlassen hatte, nur um dann zu bemerken, dass der Tod keine fünfzehn Zoll vor mir lauerte und er kleine Fehltritte zwar nicht als sonderlich spektakulär, so doch für durchaus dienlich erachtete.

      Neuerliche Wolken zogen von links in mein Gesichtsfeld und verloren sich alsbald hinter meinem Nasenrücken. Träge große Tränensäcke aus müden Gesichtern schwimmen durch mein Bild und stoßen gegen die Steilwand meines Riechorgans. Das Bild wirkt diffus. Als das Adrenalin sich wieder abgebaut hatte, überfiel mich eine schwere Müdigkeit. Meine Nebennieren stellten die Produktion ein und mein Schließmuskel entspannte sich. Ich dachte darüber nach, dass eine Blasenentleerung anstand, mein Magen knurrte und mein rechtes Auge nicht sehen konnte. Weiter kam ich nicht. Dann döste ich ein. Es rauschte. Ich fühlte mich wie ein alter Baumstamm im Wasser. Voll gesogen schwamm ich beharrlich weiter, obwohl ich fast doppelt so schwer war wie vorher. Ich konnte nicht untergehen.

      Langsam kam ich wieder zu mir. Der Hunger trieb mich an aufzustehen. Aus den klammen Taschen meines Tankrucksacks brachte ich so etwas wie ein Frühstück hervor. Trockenfleisch, kandiertes Obst und ein paar Nüsse. An der Grenze waren mir alle frischen Lebensmittel abgenommen worden. Besonders auf Früchte und Gemüse hatten es die Zollbeamten abgesehen. Sie nannten als Grund Seuchenverschleppungsgefahr. Nachdem ich die fünf Orangen, die ich nicht bereit war dem Müll zu überantworten, brav geschafft und gegessen hatte, durfte ich einreisen. Den Durchfall und die damit verbundene mehrfach vorgenommene Darmentleerung wurde aber von den Behörden in Kauf genommen und von mir ordnungsgemäß in US-amerikanischen Bio-Kreislauf eingeschleust. Während ich nun auf den kandierten Aprikosen herumkaute, bemerkte ich wieder die Beeinträchtigung meines Sehfeldes. Ich betastete vorsichtig mein rechtes Auge und fand eine harte, klebrige Kruste auf dem Lidrand und in den Wimpern. Es war mir unmöglich das Auge ganz zu öffnen. Eigentlich war es mir überhaupt nicht möglich das Auge zu öffnen. Ich nahm lediglich Licht und Schatten durch den geschlossenen Augendeckel wahr. Ich blinzelte und schaute nach unten. Vor meinem rechten Schuh kroch ein schwer gepanzerter schwarzer Käfer durch das Gewirr aus Gras, Steinen und Sand. So ein Käfer kam bei uns zu Hause relativ häufig vor, dachte ich. Hier hatte ich bislang noch keinen von ihnen gesehen. Der kleine Kerl hatte große Geweihe an seinem Kiefer, mit denen er sich arg schwer tat. Völlig unnütz erschienen mir diese Kieferauswüchse schon in Anbetracht dessen, dass er sich lediglich von Pflanzensäften ernährte und diese Ausrüstung nur für den Kampf mit einem Konkurrenten brauchte, wenn es um die Herzdame ging. Schmiss er also im Zweikampf den Gegner vom Ast oder auf den Rücken gewann er und durfte sich paaren. Für die tägliche Routine war es aber völlig unnütz. Er benötigte sogar häufig die Hilfe des Weibchens, um satt zu werden. Was für einen Ballast die kleinen Kerle da mit sich rumschleppen müssen, dachte ich. Ist ja unglaublich!

      Ich war wieder halbwegs in der Reihe und verstaute den ganzen klammen Krempel auf meinem Bock. Meine Stiefel waren komplett durchgeweicht. Ich befestigte die Doc's hinten am Motorrad und machte mich auf die Suche nach einem Augenarzt. Das war gar keine so leichte Aufgabe, wie ich bemerkte, denn rund um Ruby Beach gab es nicht mal eine richtige Stadt. Daher fuhr ich meine Route Richtung Süden auf der 101 einfach weiter und wartete ab. Nach etwa zwei Stunden erreichte ich Aberdeen und als die ersten Ampeln auftauchten, bemerkte ich den Vorteil von dreidimensionalem Sehen. Dadurch, dass mein rechtes Auge vollständig die Arbeit verweigerte, hatte ich mich mit Hilfe meiner linksseitigen Kapazität zwar bislang recht ordentlich fortbewegen können, aber nun, hier in der Stadt, war meine Tiefenwahrnehmung gefordert und so kam es, dass ich entweder drei Meter vor oder ein Meter hinter einer Ampel zum Stehen kam. Alles nur Übungssache, sagte ich mir. Klar.

      Aber ich war hungrig, suchte nach einem Arzt und mein Aggregatzustand wechselte erst allmählich von flüssig zu feucht. Mittlerweile waren meine Turnschuhe ebenfalls durchgeweicht und ich wollte wieder meine Stiefel anziehen, als ich bemerkte, dass der Platz auf dem Soziussitz, wo die Stiefel trocknen sollten, leer war. Der Tag wurde immer besser.

      Beim Augenarzt zahlte ich in bar. Ein Besuch, ein paar Tropfen und eine Augenklappe, das macht 42 Dollar. Nicht, dass ich eine Wahl gehabt hätte, steckte doch mein ganzes Vermögen, etwa 160 Dollar, sauber aufgerollt und leicht nass in meinem Tankrucksack. Eine Kreditkarte besaß ich nicht. Wer sollte mir auch einen Kredit geben?

      Die Sprechstundenhilfe machte gleich von Anfang an deutlich, dass ich erst einmal dreißig Dollar auf den Tisch legen sollte, um einen Termin zu bekommen. Nach dem Termin bezahlte ich nochmal neun Dollar für das Medikament und drei Dollar für eine Augenklappe. Die Diagnose war eine Bindehautentzündung, wobei dem Auge besonders die Zugluft zu schaffen machte.

      „Vermeiden sie es mit dem Motorrad zu fahren", hatte der Arzt mir eröffnet. "Das Auge braucht Ruhe."

      Er