Miriam Lanz

Unter Piraten


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starrten den jungen Kapitän an und doch in weite Ferne.

      Wilde unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen, bevor er sich zu seinem Offizier hinabbeugte, um seine Lider zu schließen, dann wandte er sich ab. Die meisten Leichen waren vor das Achterdeck gebracht worden. Wildes Blick schweifte kurz zu den toten Besatzungsmitgliedern. Auch Gray hatte den Sturm nicht überlebt.

      Dann hob er den Blick hinauf zur Großen Kabine. Die Tür war aus ihren Angeln gerissen worden und hing verkeilt im Türrahmen.

      Rechts neben der Tür war das Milchglas mehrmals gesprungen, das linke fehlte gänzlich.

       'Oh großer Gott!'

      Der junge Kapitän hastete zwei Stufen auf einmal nehmend die kurze Treppe hinauf zum Achterdeck. Erst jetzt waren ihm seine Passagiere wieder in den Sinn gekommen.

      Vor dem Türrahmen blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Die verglaste Heckwand fehlte. Auch die Zierbalustrade war fort. Nur langsam senkte er den Blick. In der Heckkabine stand knöchelhoch das Wasser. Nur an den Außenwänden der einzelnen Kajüten, die in den Raum hineinragte, hatten sich einige Stühle, Bücher und Navigationsinstrumente gesammelt. Der Großteil des Mobiliars, einschließlich des schweren Eichentisches, fehlte.

       'Das darf doch nicht wahr sein!'

      Plötzlich blieb sein Blick an der linken Wand der Kajüte haften und seine Augen weiteten sich.

      Dr. Steward lag bewusstlos zwischen mehreren Stühlen und losem Holz.

       'Verdammt!'

      Wilde rief drei Männer zu sich, bevor er über die verkeilte Tür in die Achterkabine stieg und den Arzt vorsichtig befreite.

      Er war sehr blass; Blut lief ihm, von einer Verletzung über seinem Haaransatz, über das Gesicht.

      Im ersten Moment hielt der junge Kapitän ihn für tot, aber dann sah er, wie sich Dr. Stewards Brustkorb leicht hob und senkte.

      „Bringt ihn vorsichtig in seine Kabine“, befahl Wilde mit heiserer Stimme.

      Erst als sich die Männer daran machten, den verletzten Arzt vorsichtig anzuheben, dachte Wilde an Gwyneth.

      Mit ungewohntem Unbehagen, sah er sich suchend um. Doch das Mädchen war nirgends zu entdecken. Er stieg über die Stühle bis vor die Tür zu ihrer Kabine. Energisch klopfte er gegen die Tür.

      "Miss Steward?", fragte er, bevor er die Tür zu öffnen versuchte. Als sie nicht nachgab, stemmte er sich gegen das raue Holz. Langsam öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Die Kabine war verwüstet, doch von dem Mädchen war nichts zu sehen.

      Langsam trat Wilde wieder hinaus aufs Achterdeck.

      Einige leicht verletzte Männer- unter ihnen Larsen und Moody- hievten gerade den umgefallenen Mast von ihren Kameraden, um denen zu helfen, denen man noch helfen konnte.

      Nach einem letzten prüfenden Blick über Deck, rief Wilde schließlich Moody zu sich, der das Unterdeck nach dem Mädchen absuchen sollte.

      Wilde beaufsichtigte die weiteren Maßnahmen, bis der Matrose neben ihm salutierte. „Sir, keine Spur von der kleinen Miss. Sie is' wie vom Erdboden verschluckt!“

      Der Kapitän nickte knapp und schloss seufzend die Augen.

       'Gott sei ihrer Seele gnädig…'

      Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust trat Wilde wieder in die Heckkabine.

      Während der Lärm der Mannschaft immer leiser wurde und schließlich nur noch das Rauschen des Wasser, durch das er schritt, zu hören war, überlegte Wilde fieberhaft, wie er dem Arzt gegenübertreten sollte.

      Vor der Tür der Kajüte atmete er noch einmal tief durch und nahm Haltung an. Dann öffnete er langsam die Tür.

      Auch seine Kabine war verwüstet. Glasscherben lagen auf dem Boden, der Tisch und die beiden Stühle waren umgefallen. Die Bücher waren aufgeschwemmt. Auch in diesem Raum stand das Wasser.

      Dr. Steward lag im Bett. Man hatte sich bereits um seine Verletzungen gekümmert.

      Der Arzt drehte seinen Kopf und stöhnte. Wilde beugte sich zu ihm nach unten, wandte sich aber schon nach einem kurzen Moment wieder seufzend ab.

       'Wie soll ich ihm sagen, dass das Mädchen weg ist. Gott steh mir bei!'

      Langsam öffnete Steward die Augen. Er sah sich verwirrt um. Seine Augen blieben schließlich an Wilde haften.

      „Wo…Wo ist Gwyn!“, ächzte er, das Gesicht schmerzverzerrt.

      Der Kapitän fühlte sich, als hätte man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. Er schluckte trocken; sein Blick war starr auf den Boden gerichtet.

      „Nun…Sir…es ist…“, begann Wilde unschlüssig und widerstand nur mit Mühe dem Wunsch, die Kabine fluchtartig zu verlassen.

      „Wo ist meine Nichte?“, fragte Steward, immer noch heiser, aber mit deutlich mehr Nachdruck in der Stimme.

      „Nun, Sir…“, Wilde suchte fieberhaft nach den richtigen Worten.

      “Es ist… Nun ich…“ Wilde hob kurz den Kopf. Als er Stewards Gesichtsausdruck bemerkte, senkte er seinen Blick wieder und holte tief Luft: “Sir, ich…ich befürchte, nun….Eure Nichte ist unauffindbar und…ich….befürchte - es tut mir wirklich sehr Leid - sie ist nicht…mehr…auf dem Schiff und…“, der junge Mann verstummte und sah seufzend auf.

      Der Arzt hatte seinen Blick in unbestimmte Ferne gerichtet. Kaum merklich schüttelte er den Kopf.

      “Nein,…“, Dr. Stewards Lippen bewegten sich, aber kein Laut entrang sich seiner Kehle. Tränen waren ihm in die Augen getreten und verschleierten seine Sicht. Wilde sah ihn für einen Augenblick mitfühlend an, ehe er leise das Zimmer verließ.

      ‚Gwyn, oh Gott, mein armes, liebes Kind!’

      Dem Arzt rannen ungehemmt Tränen über die Wangen. Sein Körper bebte unter lautlosem Schluchzen. Gwyn konnte, durfte einfach nicht tot sein…

       15. Mai im Jahre des Herrn 1713:

      „Ich glaub´, sie wacht auf. Geh´ und hol´ den Käpt´n.“

      Gwyn nahm die fremde, raue Stimme wie durch einen dichten Nebel wahr. Sie blinzelte. Das grelle Licht zwang sie jedoch die Augen sofort wieder zu schließen.

      „Oh, Gott!“, stöhnte sie und rieb sich mit der Hand über die Stirn.

      „Wie geht es Euch, Missy?“

      Gwyn hielt sich schützend die Hand vor ihr Gesicht, als sie nach dem Ursprung der Stimme suchte. Ein Mann beugte sich über sie. Sein Gesicht war braungebrannt und von tiefen Falten zerfurcht, die ihn stark altern ließen. Seine tiefliegenden, schwarzen Augen, verliehen ihm dennoch ein freundliches Aussehen.

      „Es könnte besser sein“, sagte Gwyn matt. Der Mann lächelte.

      „Da habt Ihr aber wirklich Glück gehabt, Miss.“ Gwyn konnte dem Mann nicht folgen.

       'Wo bin ich hier? Was ist passiert?'

      Verwirrt sah sie sich um. Die Kajüte, in der sie sich befand, war ihrer Kabine auf der ‚Ventus’ sehr ähnlich.

      „Was meint Ihr, als Ihr sagtet, ich hätte ‚Glück gehabt’?“, fragte sie schließlich.

      „Eine vornehme Ausdrucksweise habt Ihr, das muss ich schon sagen.“ Der Mann lächelte erneut.

      „Ihr ward ganze zwei Tage ohne Bewusstsein. Der Käpt´n gab die Hoffung schon fast auf“, erklärte er nüchtern

      Gwyn sah ihn verwirrt an, erwiderte aber nichts. Nach einer kurzen Weile, in der sich Schweigen über den kleinen Raum gelegt hatte, ergriff Gwyn schließlich wieder