Gerhard Ebert

Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag


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sein konnte, wurde ihm noch einmal bewusst, als Tante Else unerwartet im Elternhaus erschien, schwarz das Kleid und schwarz die Schuhe. Wieder schrie und klagte sie erbarmungswürdig. Ihr Sohn Gottfried sei tot, als ob das nicht gereicht hätte! Nun sei auch noch ihr lieber Mann umgekommen. Alle Hoffnung war vergebens gewesen. Onkel Erich hatte zwar die Kampfhandlungen heil überstanden, war dann aber in amerikanischer Gefangenschaft gestorben.

      Tante Elses Schicksal war wirklich tragisch, aber es berührte Uwe letztlich nicht. Er hatte mit Onkel Erich und Cousin Gottfried herzlich wenig zu tun gehabt, hatte sie mal gesehen bei gegenseitigen Besuchen. Nun also waren sie aus seinem Leben verschwunden. Und dieses Leben hatte für den jungen Mann nunmehr andere und für ihn wichtigere Probleme parat. Beispielsweise musste er emsig für die wieder in Gang gekommene Oberschule arbeiten; denn ein sehr begabter Schüler war er nicht. Weil er aber nicht nur büffeln wollte, schaute er sich auch immer wieder nach Abwechslung um.

      In einer Kleinstadt gibt es zwar nicht allzu viele Möglichkeiten, sich in freier Zeit zu betätigen. Aber in diesen Monaten nach dem Kriege, in denen alles neu anzufangen schien, wurde jede sich bietende Gelegenheit wahrgenommen. Zum Beispiel, sich sonntags als Zuschauer auf dem Sportplatz einzufinden, für die ortseigene Fußball-Mannschaft zu fiebern und - je nach Glück des Tages - ein, zwei Mal oder gar öfter so richtig kräftig "Tor!" zu schreien. Wer das nicht erlebt hat, kann gar nicht beurteilen, was es bedeutet, nach einem verlorenen Spiel einen nicht los gewordenen "Tor"-Schrei wieder mit nach Hause nehmen zu müssen. Solch verklemmter Schrei konnte Uwe noch tagelang tief in der Seele stecken.

      Da der VfB Glauchau über einige Zugänge von guten Fußballern verfügte, die es nach Ende des Krieges in die Stadt an der Zwickauer Mulde verschlagen hatte, zum Beispiel den Klassestürmer Vogl, einen Nationalspieler aus Wien, waren recht oft sehr spannende Spiele zu erleben. Auch war solch Bürgerversammlung in frischer Luft immer eine Gelegenheit, diesen oder jenen Bekannten zu treffen und zu sprechen, oder - meist mit gewissem Neid - zu sehen, dass ein Mädchen mit festem Freund auftauchte, das einem irgendwann aufgefallen war und dessen Freund man selber gern gewesen wäre.

      Selbst Sport zu treiben, kam für Uwe allerdings nicht in Frage. Warum er so untalentiert war, wusste er nicht. Beim Weitsprung zum Beispiel in der Schule machte er stets klägliche Figur. Als sich Turn-Veteranen, die den Krieg heil überlebt hatten, in ihrer anhaltenden Sportbegeisterung einfallen ließen, die Schüler wegen Pflege der Gesundheit einmal in der Woche abends zu einer Turnstunde kommandieren zu lassen, war das die reine Hölle für Uwe. Immer wieder drückte er sich mit Ausreden und war froh, als den aufdringlichen alten Männern ihre eigene Initiative lästig wurde und die Unternehmung einschlief.

      Briefmarken sammeln kann man als Sport eigentlich nicht bezeichnen. Aber wenn, dann war Uwe ein leidenschaftlicher Sportler. Angefangen zu sammeln hatte er noch vor 1945, angeregt wahrscheinlich von der Sammelei, die sich durch Vaters Rauchen ergab. In jeder Zigarettenschachtel nämlich, die er kaufte, befand sich ein kleines buntes Bild, natürlich vom Krieg und von der Wehrmacht, wie konnte es auch anders sein. Doch es war nun mal ein gewisses Vergnügen, in das Album, das es zu kaufen gab und in dem die Bilder nur als Nummer und ab und an schwach als Zeichnung angegeben waren, eines Tages das entsprechende bunte kleine Bild einzukleben.

      Ähnlich war das bei den Briefmarken, bei denen es obendrein so viele teils teure und nicht zu erhaltende Abweichungen gab. Aber Hoffnung konnte man immer haben, eines Tages doch an eine Marke zu geraten, die eine hoch geschätzte Besonderheit hatte. Jedenfalls war Uwe über derlei Ausnahme-Probleme bei Briefmarken gut informiert, so dass er hellwach war, als sich die Glauchauer Post 1945 entschloss, den eigentlich zu vernichtenden Hitler-Marken den schwarzen Aufdruck „Kreis Glauchau“ zu verpassen, um sie weiter verwenden zu können. Uwe ahnte ungeheuren Gewinn und kaufte, so viel er bezahlen konnte. Wenige Zeit später aber waren die Marken verboten, Geschäfte damit nicht zu machen.

      Immerhin hatte Uwe eine Sportart ausgefunden, der er sich gewachsen fühlte und die ihm Spaß machte: Schach! Er hatte sich das Regelwerk selbst angeeignet und eines Tages seinen Bruder so weit angeleitet, dass der sich mit ans Brett setzte, um mit ihm zu spielen. Anfangs musste er ihn öfter gewinnen lassen, dass er bei Laune und als Partner erhalten blieb. Mit der Zeit wurde das natürlich langweilig, zumal sich Uwe inzwischen einbildete, ein ganz passabler Schachspieler zu sein. Von der Stadtbibliothek hatte er sich diverse Fachbücher ausgeliehen, so dass er glaubte, zum Beispiel bestimmte Eröffnungszüge ganz gut zu beherrschen. Sein Bruder hielt nicht entsprechend mit, so dass das Verhältnis immer ungleicher wurde.

      Eines Tages entdeckte Uwe bei einem seiner Spaziergänge durch die Stadt an einer Kneipe einen Aushang, auf dem ein Schachklub Interessenten warb. Er ging zwar nicht sofort hin, zumal er erst noch ausfinden musste, wann man dort genehm war, aber einige Zeit nach seiner Entdeckung betrat er doch am ausgewiesenen Spieltag den leider arg rauchgeschwängerten Raum der Kneipe. Dass Schachspieler sich als Raucher entpuppten, war höchst bedauerlich, musste aber jetzt durchgestanden werden. An drei, vier Tischen saßen sich je zwei Herren gegenüber, jeweils ein Schachbrett zwischen und ein Glas Bier neben sich.

      Kaum einer der Herren merkte auf, als Uwe eintrat. Auch jetzt, als er unschlüssig stand, kümmerte sich keiner. Das ärgerte ihn, denn Neulinge zu werben, hieß doch wohl, sie auch zu begrüßen. Schon war Uwe geneigt, sich wieder abzuwenden, aber ein Bier, entschloss er sich, wollte er wenigstens trinken. Außerdem hatte er auf jedem der Spieltische so eine Art doppelte Uhr bemerkt, auf die der Spieler, der gerade einen Zug gemacht hatte, auf seiner Seite kurz drückte. Das hatte er noch nie gesehen und machte ihn neugierig. Also nahm er an einem leeren Tisch Platz, bestellte beim eilfertigen Wirt ein Bier und blickte im Übrigen angestrengt neugierig hinüber zu dem nächststehenden Tisch, um vom dort ausgetragenen Spiel etwas mitzubekommen.

      Plötzlich fragte den neugierigen Uwe doch tatsächlich ein junger Mann, der eben seinen Zug gezogen hatte, ob er vielleicht Interesse hätte. Das war die Gelegenheit! Uwe fasste all seinen Mut zusammen und sagte forsch, er würde gern einmal gegen ihn spielen, wenn er mit seinem Spiel zu Ende sei. Prompt forderte der junge Mann den Wirt auf, Uwe ein Schachbrett zu bringen. Eh er es vermutete, hatte der Anfänger ein nagelneues Brett vor sich auf dem Tisch und ein Kästchen mit Figuren. Das Bier platzierte der Wirt elegant an der Seite. Was er Uwe nicht hinstellte, war solch eine doppelte Uhr! Noch bevor der sich von seiner Überraschung erholt hatte, forderte ihn der junge Mann von nebenan auf, schon mal die Figuren aufzustellen. Er wüsste ja wohl, wie das geht. Nun gut, den Gefallen konnte Uwe ihm tun. Schließlich war noch viel Zeit, denn bei dem just laufenden Spiel des Nachbarn war ein Ende nicht in Sicht. Also baute Uwe in aller Ruhe die Figuren auf. Doch kaum war er damit fertig, sagte der Nachbar über die Schulter zu ihm, er solle "weiß" nehmen und schon mal den ersten Zug machen.

      Uwe fand das zutiefst beleidigend! Konnte der Spieler nicht warten, bis er mit am Tisch saß? Und hätte er, Uwe, nicht auch solch eine Uhr bekommen müssen? Was sollte er tun? Immerhin, empfand er, war es entgegenkommend, ihn als Spieler zu akzeptieren, ohne ihn zu kennen. Also zog Uwe einen Zug und nahm einen Schluck Bier. Der junge Mann von nebenan blickte nur kurz herüber, griff mit langem Arm her, setzte eine Figur und widmete sich prompt wieder dem Spiel an seinem Tisch.

      Das verwirrte Uwe total. So nebenbei, wie der junge Mann das versuchte, glaubte Uwe, war mit ihm nun wirklich nicht zu spielen! Also zog er prompt den nächsten Zug. Das ging so drei, vier Mal, dann machte der Nachbar einen Zug, sagte "Schach!" und überließ Uwe seiner Verblüffung. Noch glaubte Uwe, er würde gefoppt, und begriff gar nicht, dass er bereits verloren war. Kaum hatte er erneut gezogen, griff sein Gegner wieder ganz nebenbei herüber, setzte eine Figur und sagte: "Matt!"

      Uwe starrte entsetzt auf das Brett. Tatsächlich, tatsächlich, er war so ganz nebenbei auf die Matte gehauen worden. Uwe war plötzlich sehr, sehr allein.

      "Danke!" sagte er schließlich kleinlaut, bezahlte sein Bier und schwankte davon. Die verräucherte Schachklub-Kneipe betrat er nie wieder.

      8. Blitze aus heiterem Himmel

      Kaum hatte man sich in der Stadt irgendwie mit der amerikanischen Besatzung abgefunden, machte das Gerücht die Runde, die Russen würden kommen. Uwe hatte zwar von martialischen Nazi-Plakaten über eine angebliche bolschewistische