Gerhard Ebert

Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag


Скачать книгу

hinterher. Was sollte nun werden ohne Vater?

      Zunächst indessen schien alles Leben weiter zu gehen wie zuvor. Nur unmerkliche Veränderungen. In der Schule wurden die Erfolge der Wehrmacht gefeiert, auf einer großen Landkarte das Vorrücken der Truppen nach Polen hinein markiert. In den Pausen standen die Schüler vor der Tafel und debattierten. Lehrer allerdings schienen die Stelle zu meiden. Und einer von ihnen, der sonst immer mit strammem Hitler-Gruß seine Stunde begann, machte das neuerdings nur noch sehr flüchtig. Bald war klar, warum. Er musste an die Front. Merkwürdig wehmütig verabschiedete er sich von den Schülern, legte gar keinen Wert darauf, als Held loszuziehen.

      Auf dem Bahnhof, wurde beim Krämer erzählt, kämen jetzt immer Militärzüge vorbei, große Transporte mit Soldaten und Kriegsgerät. Manchmal hielten die Züge, und man konnte erfahren, dass sie aus ganz Deutschland auf dem Wege in den Osten waren. Uwe verspürte wenig Neigung, sich wie früher als kleiner Bub am Bahnhof auf die Mauer zu stellen und gar zu winken. Irgendwie empfand er, winkte man da eigentlich dem Tode zu. Denn dass Soldaten in Polen starben, wurde bald klar. Todesanzeigen in der Zeitung. Wie Tante Luise gesagt hatte.

      Noch eine allerdings merkliche Veränderung hatte es gegeben. Was von ihm zunächst nur wie ein Spaß gesehen worden war, das Verdunkeln aller Fenster am Abend, war heiliger Ernst geworden. Wenn man jetzt abends durch die Straßen gehen musste, aus welchem Grunde auch immer, war man gut beraten, sehr aufmerksam zu laufen; denn da konnte ein Hindernis auf dem unbeleuchteten Weg sein. Alles war irgendwie unheimlich. Man ging nicht mehr gern auf die Straße abends.

      Und dann die Sirene! Fliegeralarm! So lange alles noch Übung war, die Sache nicht unbedingt ernst genommen werden musste, hatten die Leute fast amüsiert die Keller aufgesucht. Als es dann ernst genommen werden sollte, öffneten sie zwar die Kellertür vorsichtshalber, blieben aber draußen. Es gab ohnehin meist ganz schnell Entwarnung.

      Die jedoch, die ihr Leben liebten, kümmerten sich um den Keller. So konnte man das auslegen. Aus diesem Grunde hatte Vati, noch bevor er in den Krieg ziehen musste, im Keller ein wenig aufgeräumt, hatte Platz gemacht für ein paar Stühle. Aber viel Zweck schien das nicht zu haben; denn ihr Keller unterm Haus war nur ein schmaler Gang, eine Art gepflasterte Höhle, gerade mal Platz genug für zwei, drei Holzwannen – in denen übrigens der Weihnachtsstollen lange Zeit wunderbar frisch blieb - , ein, zwei Kartoffelkisten und ein Regal für Einkochgläser. Sollte das Haus über einem zusammenfallen, war man da unten eingesperrt wie in einem Rattenloch. Aber im Keller war dennoch irgendwie Schutz. Urplötzlich, über Nacht, war diese Möglichkeit höchst wichtig geworden. Fliegeralarm, den es seit Kriegsausbruch ernsthaft vielleicht drei, vier Mal gegeben hatte, ohne dass sie auch nur ein Flugzeug gehört hatten, konnte nämlich eine wirklich echte Bedrohung sein.

      Es war Nacht gewesen. Da heulten die Sirenen. Schon rief Mutter von unten nach den Jungs. Sie sollten schnell aufstehen und sich anziehen. Die Brüder zögerten. Wozu das? Gleich würde es Entwarnung geben. Doch da hörte Uwe ein Geräusch durchs offene Kammerfenster. Ein Flugzeug! In der Ferne noch, aber deutlich und unverkennbar ein Flugzeug! Schnell kleideten sich die Brüder an, eilten nach unten und zur Kellertür. Hastig verständigten sie sich. Ja, auch Nachbarn hörten ein Flugzeug. Oh! Sie schreckten zusammen. Ein, zwei dumpfe Detonationen in der Ferne! Was war das? Bomben? Ohne Zweifel Bomben! Sie zitterten, eilten die Kellertreppe hinab. Doch nun blieb es ruhig. Keine weiteren Detonationen.

      Schon debattierten Nachbarn lärmend draußen auf der Straße. Auch Uwe wagte sich hinaus. Mutter sah es nicht gern, aber es war kein Flugzeug mehr zu hören. Lebhafte Erörterung auf der Straße, wo wohl die Bomben herunter gekommen sein könnten. Einige meinten, sie hätten dem Bahnhof gegolten. Vielleicht hatte dort gerade ein Militärtransport gestanden. Andere vermuteten, der unheimliche Knall sei aus ganz anderer Richtung gekommen. Endlich! Die Sirene! Entwarnung. Natürlich war an Schlaf kaum noch zu denken. Draußen wurde es schon hell, als Uwe endlich einschlummerte. Mutter musste ihn morgens rütteln, denn er hatte seinen Wecker überhört. Schule!

      Dort erfuhr Uwe, wo in der Nacht die Bomben gefallen waren. Man hätte es nicht für möglich gehalten: Sie hatten eine Eisenbahnbrücke treffen sollen! Aber sie waren zehn, zwanzig Meter daneben in einen Acker geraten und hatten dort zwei große Krater hinterlassen. Sobald die Schule zu Ende war, gab es kein Halten. Die halbe Schulklasse zog los, um den Ort des nächtlichen Geschehens zu besichtigen. Doch sie kamen nicht weit.

      Schon auf der langen Straße durch Lungwitz trafen sie immer wieder Leute, die nicht zum Ort des Geschehens hatten vordringen können und nun langsam zurück trotteten. Die Straße war abgesperrt, bereits weit zuvor, am Gasthaus Wechselburger Hof, einem beliebten Ausflugslokal der Städter. Zur Anhöhe oben an der Eisenbahn-Strecke Zwickau – Chemnitz, wo die Bomben gefallen waren, war kein Durchkommen. Schaulustige, die beharrlich am Gasthaus herumstanden, rieten, einen Umweg über die Felder zu nehmen oder es von der Autobahn her zu versuchen. Andere meinten, wirklich etwas Genaues sei sowieso nicht zu sehen. Die Krater würden bereits zugeschüttet. Uwe gab auf. Ihm war auch so klar: Der schlimme Krieg war auf einmal greifbar nah.

      2. Cousin Gottfried fällt

      Uwe ärgerte zunehmend, wie Mutter mit ihm umging, Zwar hatte sie ihn, als der Vater in den Krieg ziehen musste, zum "Mann im Hause" erklärt, behandelte ihn aber nach wie vor wie ein Kind. Womit sie ihn kränkte. Zum Beispiel hatte sie schleunigst ein altes Magazin entfernt, als sie bemerkt hatte, dass Uwe darin las. Er war ganz zufällig darauf gestoßen, als er Holz fürs Feuermachen holen sollte. Da lag ganz unten im Korb, unter den Scheiten, ein alter, abgewetzter dicker Schmöker, bei dem man, wenn man blätterte, auf Bilder von entblößten Frauen stieß. Uwe hatte das aufregende Ding entdeckt und erst einmal sorgfältig zurückgelegt, damit Mutter keinen Verdacht schöpfte. Doch schon beim nächsten Mal, als er sich ein bisschen mehr Zeit dafür hatte nehmen wollen, war das Magazin aus dem Korb verschwunden. Das konnte Zufall sein, gewiss. Also nicht unnötig ärgern!

      Wirklich echt aber wurmte Uwe Mutters Versuch, ihm weis zu machen, die Kinder kämen vom Klapperstorch. Schon seit geraumer Zeit war ihm aufgefallen, dass Mutti immer mehr zunahm. Eines Tages hatte sie sogar einen Rock nicht mehr anziehen können, weil er sich nicht mehr zuknöpfen ließ. Ihr Bauch war richtig dick geworden. Und so üppig war die Ernährung jetzt im Krieg wahrhaftig nicht. Plötzlich erinnerte sich Uwe, dass vor einigen Monaten Vati kurz Urlaub bekommen hatte, weil er von der Front zurück in ein sogenanntes Ersatz-Bataillon versetzt worden war. Und vor dem Eintreffen dort in der Kaserne hatte er einige Tage Urlaub gehabt.

      Bei welcher Gelegenheit übrigens für Uwe an den Tag gekommen war, was Vater damals mit seiner geheimnisvollen Bemerkung gemeint hatte, er werde es denen schon zeigen. Als er jetzt die paar Tage zu Hause gewesen war, hatte er nämlich konsequent und ganz und gar unmilitärisch gehumpelt, sobald er mit seinen Stiefeln die Straße betrat. Zu Hause in Pantoffeln machte ihm seine Verletzung aus dem 1.Weltkrieg keinen Kummer. In den Knobelbechern jedoch schmerzte die alte Wunde an der Ferse so arg, dass er völlig kriegsuntauglich hinken musste. Kein Arzt hatte ihm beweisen können, dass er simulierte. Und man hatte ihn zu etlichen Ärzten geschickt. So war er denn von der Front zurück in die Heimat versetzt worden, wobei er seinen Kurzurlaub offenbar zum Bumsen genutzt hatte. Uwe war auf einmal sehr froh, durch eine Kur im Erzgebirge in Sachen Kinderkriegen kundiger geworden zu sein. Im Schlafsaal hatten die Jungen in Sachen Frauen nämlich Dinge erzählt, die Uwe noch nie gehört hatte.

      Jedenfalls war Mutter schwanger, daran war nicht zu rütteln. Und obwohl der Bauch schon mächtig angeschwollen war, eigentlich nicht zu übersehen, versuchte eines Tages doch tatsächlich Tante Else, Uwe einzureden, dass bald der Klapperstorch komme. Und Mutter, von Tante dazu aufgefordert, schloss sich dem Märchen an, wobei sie immerhin in dem Moment versuchte, ihren Bauch etwas wegzudrehen. Uwe musste arg an sich halten, um den alten Weibern nicht klipp und klar zu sagen, was er von ihrem Geschwätz hielt. Aber er schaffte es, einfach still den Ahnungslosen zu spielen. Denn, das war klar, würde er widersprechen, müsste er allerhand Fragen über sich ergehen lassen. Vor allem Mutter würde immer wieder bei ihm bohren, um herauszubekommen, was Uwe vom Kinderkriegen schon wusste.

      Leider wusste er davon bislang so gut wie nichts, allenfalls irgendwie dunkel, dass man einen nackten Po brauchte, und zwar den