Martin Renold

Die Großen und die Kleinen


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an die Tafel und betrachtete stolz mein Werk, in der Gewissheit, dass ich keinen Fehler gemacht hatte.

      Doch unter der Gewalt der kreischenden Stimme meiner Lehrerin fuhr ich erschrocken zusammen.

      „Hast du nichts kapiert?“, fuhr sie mich an. „Ich hab verlangt, dass ihr die Wörter in der normalen Schreibweise lernt. Jetzt ist es vorbei mit der phonetischen Schrift. Na, schreib’s nun richtig an die Tafel.“

      Ich zuckte die Achseln und stand wie der Esel am Berg, hilflos mit der Kreide in der Hand und hatte keine Ahnung, wie ich das Wort haricot schreiben sollte.

      Sie schubste mich unwirsch von der Tafel weg, und ich ging zerknirscht und beschämt an meinen Platz zurück. Ich war offenbar der Einzige, der nicht im Bilde war.

      Aber es kam noch schlimmer. Die Nasallaute der französischen Sprache waren für mich etwas vollkommen Neues. Fremdwörter wie Saison oder Chance waren daheim bisher immer wie Säsong und Schanxe ausgesprochen worden. Als ich nun vor der Klasse von zehn bis zwanzig zählen sollte, klang mein quinze zum Verwechseln ähnlich wie Käs. Und mindestens fünfzehnmal musste ich meiner Lehrerin das für mich unaussprechliche Wort nachsagen, das auch nach dem letzten Versuch immer noch an Käse erinnerte.

      Ich sollte zu Hause üben, trug mir die Lehrerin auf, und um meine Fortschritte zu prüfen, musste ich in jeder Stunde das Wort quinze vorsagen. Ich hatte daheim im stillen Kämmerlein geübt und hatte mir dabei sogar die Nase zugehalten. Es blieb beim Käs. Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelang, die verschiedenen Nasallaute schließlich doch richtig zu artikulieren. Auf jeden Fall war es eines Tages so weit. Die weitere Blamage blieb mir erspart, doch glaube ich, in den Augen meiner Lehrerein weiterhin als hoffnungsloser Fall zu gelten. Dies änderte sich erst, als sich der Freund meiner älteren Schwester meiner annahm. Er war ein hervorragender Zeichner und wurde später Kunstmaler. In pädagogischer Vollkommenheit malte er ein drei Meter langes Wandfries, auf dem die consecutio temporum und andere grammatische Regeln bildlich dargestellt waren. Dieses Band heftete ich über meinem Bett an die Wand, und dem Rat des Freundes folgend, schlief ich nicht mehr ein, ohne mir die Worte und Bilder auf dem Streifen eingeprägt zu haben.

      So machte ich denn im zweiten Französischjahr langsam Fortschritte und gewann endlich die Anerkennung meiner Lehrerin. Trotzdem atmete ich auf, als ich nach einem weiteren Jahr einen neuen Französischlehrer bekam.

      Fünf Jahre waren vergangen, seit ich die Schule verlassen hatte und in einer Buchhandlung arbeitete. Als Ehemaliger erfuhr ich aus den jährlichen Mitteilungen unserer Schule vom Tod der Elsa Nüesch. Sie war achtundfünfzig Jahre alt geworden und hatte sich die letzten drei Jahre gegen eine Krankheit gewehrt, der sie sich jedoch in den letzten Wochen mit innerer Größe und in der Zuversicht auf Gottes Güte beugte.

      Noch in der Zeit, als ich in der Buchhandlung arbeitete, hatte ich einen kleinen Verlag gegründet, in dem ich Gedichte und kürzere Erzählungen damals meist noch unbekannter Autoren herausbrachte. Doch dieser Verlag konnte meine noch junge Familie nicht ernähren. Ich hatte deshalb eine Stelle als Verlagsleiter in einem theologischen Fachbuchverlag angenommen und meinen eigenen Verlag nebenbei beschränkt weitergeführt, schließlich auch nur noch, um die Restbestände zu verkaufen.

      Da bekam ich eines Tages durch eine Cousine ein Manuskript mit Gedichten und tagebuchähnlichen Aufzeichnungen in die Hände. Die Cousine hatte es von einer Freundin meiner ehemaligen Französischlehrerin erhalten, die hoffte, mit der Veröffentlichung in meinem Verlag der Toten ein Denkmal setzen zu können. Obwohl ich nun keine Gelegenheit mehr hatte, die Gedichte zu veröffentlichen, las ich sie mit großem Interesse, auch mit Betroffenheit. Es waren ergreifende, schöne Gedichte, die Elsa Nüesch wohl schon während ihrer Lehrzeit am Gymnasium und in der Zeit ihrer Krankheit geschrieben hatte. In diesen feinfühligen, zarten Versen lernte ich eine ganz andere Frau kennen als jene Pflutsch, die wir Jugendlichen damals gefürchtet, geplagt und vielleicht sogar verabscheut hatten. Ich sah hinein in die Seele einer Frau, die Tag für Tag in der Angst vor ihren Schülern gelebt hatte, die sie trotz allem so sehr liebte und denen sie nicht nur die französische Sprache, sondern die tieferen Werte des Lebens hatte beibringen wollen. Die Gedichte waren Schreie der Verzweiflung und der Angst, Gesänge der Liebe zu der Jugend, die ihr anvertraut war. Ausdruck einer unendlichen Einsamkeit. Ich spürte, wie sie die Kränkungen, die ihr das Herz zu zerbrechen drohten, zu verzeihen bereit war und wie sie darunter litt. Und sie litt auch unter ihrem massigen Körper, der die liebenden und sehnsüchtigen Seiten ihrer Seele vor den Schülern so sehr verbarg, dass sie sie in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit nicht erkennen konnten.

      Wie gerne hätte ich diese Gedichte veröffentlicht, wenn ich meinen eigenen Verlag nicht schon liquidiert gehabt hätte. Obwohl die Autorin nicht mehr lebte, fiel es mir schwerer als in vielen anderen Fällen, das Manuskript zurückgeben zu müssen. Wie gerne hätte ich einen schmucken Gedichtband daraus gemacht, hätte ihn all meinen ehemaligen Klassenkameraden und -kameradinnen geschenkt, damit auch sie die andere Seite der Pflutsch, den wahren, sensiblen Menschen Elsa Nüesch kennen gelernt hätten, und damit auch ich nachträglich Abbitte hätte leisten können für mein passives Mitmachen bei den Streichen, mit denen wir unsere Lehrerin gequält und in ihrem tiefsten Innern verletzt hatte, und dafür, dass auch ich bis zu diesem Zeitpunkt das wahre Wesen dieser Frau, das in dem unförmigen Körper und hinter der krächzenden Stimme verborgen war, nicht erkannt, ja nicht einmal erahnt hatte.

      Kurz vor ihrem Tod und im Bewusstsein des unausweichlichen Endes hatte Elsa Nüesch einen Brief an die Schüler geschrieben, in dem sie sagt: „Wohl bin ich von Euch aus gesehen nicht ein idealer Schulmeister gewesen. Ich weiß um meine gelegentliche Gereiztheit und hoffe, Ihr tragt sie mir nicht nach.“

      Kein Wort von dem, was wir Schüler ihr angetan, die allen Grund hätten, sich bei ihr zu entschuldigen. Im Gegenteil, sie ist es, die sich bei ihren Schülern glaubt entschuldigen zu müssen. Und an anderer Stelle ihres Briefes schreibt sie: „Bitte, bewahrt, pflegt, entwickelt, was Ihr Dauerhaftes und Wertvolles in Euch aufnehmen könnt. Dann ist die Mühe um Euch nicht verloren. Wenn uns Älteren die Fackel aus den Händen fällt, tragt sie weiter. Werdet so Wahrer und Mehrer ererbten Gutes … Es war mir eine Freude, Euch zu dienen, solange ich es vermocht habe. Lebt wohl!“

      Die abgeschminkte Schriftstellerin

      Sie läutete eines Tages an unserer Wohnungstür in Küsnacht. Meine Frau öffnete ihr. Wir hatten sie erwartet. Sie hielt meine Gattin für das Dienstmädchen. Als sie erkannte, dass sie sich getäuscht hatte, errötete sie über das ganze Gesicht und entschuldigte sich.

      Hedy W. Dühring hatte mir ein Manuskript geschickt, das mir sehr gefiel. Ich war bereit, es in meinem kleinen Eirene-Verlag zu veröffentlichen. Sie war glücklich und nahm meine Einladung zu einem Mittsagessen und zur Besprechung und Unterzeichnung des Verlagsvertrags bei mir zu Hause an.

      Sie war eine vollschlanke Dame. Ich hatte sie mir eigentlich anders vorgestellt. Aus der Stimme am Telefon und die Art, wie sie sprach, hatte ich auf eine etwas extravagante Frau geschlossen mit triefend geschminkten Lippen und kräftigen Lidschatten, mit knallroten Fingernägeln, einem tief dekolletierten Kleid, mit goldenen Ketten um Hals und Armgelenke und auffälligen Ringen an den Fingern. Doch nichts von alledem. Sie trug einen hoch geschlossenen Rock, der ihr bis unter die Knie reichte. Ihr Gesicht aber war nicht nur nicht geschminkt, bei näherem Zusehen sah es eher aus wie abgeschminkt. Reste von rotem Lack hafteten noch an ihren Fingernägeln. Sie hatte gewusst, dass ich neben meinem eigenen kleinen Verlag auch noch den Verlag leitete, in dem die Werke des berühmten Theologen Karl Barth herauskamen. Auf Grund dieses Umstandes habe sie erwartet, einem alten, verknöcherten, frommen Verleger gegenüberzutreten, den sie keines falls durch ihr Auftreten habe schockieren wollen. Es habe sie schon erstaunt, dass ich in einem Wohnblock wohne und nicht in einem großen Haus mit mindestens einem Dienstmädchen. Dass sie in mir einem jungen Verleger begegnete – ich war damals achtundzwanzig Jahre alt und meine Frau sechs Jahre jünger –, versetzte sie zuerst in ein großes Erstaunen, das schließlich, als ich ihr andeutete, dass ich an ihr all das erwartet hätte, was sie aus Angst vor meinem Missfallen abgelegt hatte, in ein allseitig lautes Gelächter überging. Ich glaube, ich habe mit keinem anderen Autor je einen so lustigen und fröhlichen