Christian Kuhnke

Der Alte Krug


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gestärkt kündigte ich telefonisch der Taxizentrale zu deren hörbarer Freude meine Mitarbeit auf und begab mich auf erste Spurensuche. „Wir beide sind jetzt Schnüffler,” tätschelte ich Siegel. Der interessierte sich aber inzwischen mehr für ein neu eingesätes Stück Rasen. Akribisch baggerte er ein halb Meter tiefes Loch. Wofür? Vielleicht muss man alles im Leben symbolischer nehmen.

      Entschlossen betrat ich erstmals in meinem Leben die städtische Bibliothek mit angeschlossenem Archiv. Eine nette Frau, garantiert halbe Molkereitochterqualität, erläuterte mir bereitwillig und geschäftlich den Umgang mit den Folterwerkzeugen der Archivare. Sofort verschwand ich Hals über Kopf in Karteikästen, Stichwortregistern und Querverweisen. Relativ erfolgreich für einen kommenden Rockstar und werdenden Wirt. Zum Abtransport der Schriften über den Alten Krug, das Bierbrauen im allgemeinen und einigen Ortschroniken musste ich im gegenüberliegenden Supermarkt zunächst Einkaufstüten organisieren. Ich entschied mich für Baumwolltaschen. Fünfzig Pfennig das Stück.

      Als ich in den Alten Krug kam, hörte ich den Hacker im Hintergrund rumoren. Die erste schwerwiegende Entscheidung des Mittags war nun zu treffen. Fordernd blickten mir rauchgeschwängerte Gardinen und spinnwebenüberzogene Hirschgeweihe entgegen. Sie harrten meiner emsigen Hand mit dem großen Feudel. Doch das heftig um Einblick werbende Bibliotheksbündel war stärker, die ersten Gäste noch fern, und schon verschwand ich in dem Stapel Fotokopien. Als Giesbert Romanowski nach fünf Minuten - die Uhr sprach allerdings von über drei Stunden - vor meinem zettelübersäten Stammtisch stand, platzte es ungestüm aus mir heraus. "Also, Hacker. Ich war heut´ in der Bibliothek und habe Materialien über den Alten Krug gesammelt. Premiere. Der alte Krug muss 1704 gebaut worden sein. Das dendrochronologische Gutachten datiert die Fällung der Eichenhölzer für den Fachwerkbau eindeutig auf 1703. Es war der erste Bau außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer. Der Fürst hat für die Ansiedlung etliche Knete sausen lassen. Er hat das Grundstück kostenlos dem Kammerrat Gabriel Friedrich Pierlinger oder so ähnlich überlassen – konnt´ ich nicht so genau entziffern. Jedenfalls hat der Typ `ne Branntweinbrennerei und `ne Scheune errichtet. Für 300 Taler wurde der dann auch noch auf ewige Zeit von allen steuerlichen Lasten entbunden. Steht hier in der Prozessakte.”

      "Äh, ja,” unterbrach mich Giesbert. "Da könnten wir ja vielleicht zwecks Kostenminimierung mal einen Antrag ans Finanzamt stellen. Ewig ist doch ewig - oder wie.” Das klang überzeugend, kam aber bestimmt nicht hin. Wir beschlossen, den Winkeladvokaten dahingehend auszupressen.

      "Du, ich hab von `nem Kumpel billig den 486er, 33 Megahertz, voll mit 32-bit Eisa Architektur abgestaubt. 200 Megabyte - Festplatte, 4 MB RAM - können wir aber jederzeit aufrüsten. Zwei Laufwerke - logo und Cache, Coprozessor und sogar mit Maus. Lahme, alte Kiste, reicht aber für die Buchführung. Geil, wa? Da machen wir jetzt das ganze Management mit. Drucker ist auch kein Problem. Yanco hat da noch ein Schätzchen in der Ecke stehen. Wo wollen wir den Kasten denn aufbauen?"

      "Können wir denn mit der Digitalkiste auch die Pfandpreise berechnen und vorhersagen ?" Der Hacker zuckte, nichts kapierend, unruhig mit Achseln und Augenbrauen.

      Schwerfällig, abr entschlossen stand ich auf. Die Küche war zu fettig, der Keller zu weinselig. Blieb für das Computerschätzchen also nur das Kabuff neben der rumpelnden Kegelbahn. Oben und in Joschis Wohnung hatte ich mich noch gar nicht umgetan. Giesbert war gleich voll im Geschäft. "Du, ich richte jetzt die Festplatte ein, spiel ein paar affentittengeile Programme drauf - alle voll schwarz und ohne Viren und schon fluppt das. Du kümmerst dich ja um die Kneipe. In einer Stunde geht`s los.”

      Während ich im afrikanischen Windstil die Wirtsstube für den nächtlich ersehnten Umtrunk kostümierte, sortierte ich mein neues Wissen. Also, der Stadtgrundriss von 1750 zeigte Joschis Kneipe mit einem rechtwinklig nach Westen anschließenden Flügel. Das Ding gab es heutzutage nicht mehr. Es soll die damalige Stall- und Wagenremise gewesen sein. Zwei Aschenbecher gingen zu Boden, während mir dämmerte, dass der als Scheune bezeichnete Gebäudeteil Schnapsbrennerei und die rückwärtigen Anbauten Stallungen, Wagenscheuer und Gesinderäume gewesen sein müssten. Die Prozessakten! Hier war zu lesen, dass Pierlinger oder so ähnlich im Jahre 1722 den „bau der Scheure für Korn und Zugvieh hinzuzufügte und fing an solch Gebäude, in situ destinatu für sich und seine familie frey zu besitzen.” Der Schlawiner Pierlinger. Doch irgendwie nahm alles seinen gerechten Lauf. Im selben Jahr wurde er wegen Veruntreuung angeklagt und unter Hausarrest gestellt. Am 4.7. 1728 vermietet er sein am „schnipelfeldnerischen Wege gelegenes hauß mit dabey befindlichen hoffplatze und kleiner scheure an den Joseph Beuteler.” Wahrscheinlich war die Vermietung nicht so ganz freiwillig gewesen. Womit wir irgendwie bei Joschi angekommen wären. Ihr Vorfahr erhoffte sich wohl sein wirtschaftliches Auskommen im Tabak und eröffnet eine diesbezügliche Manufaktur. Schnaps, Bier und Tabak. Beuteler – Zigarren. Was will der Mann mehr - vielleicht noch das adrette Töchterchen des Molkereibesitzers. Ich steche vorsorglich und weitblickend ein neues Fass an. Ich glaub, die Kneiperei ist mein Geschäft.

      Gerade noch rechtzeitig, denn schon hatten sich der Hobbyschauspieler Breiheim und seine Frau in froher Erwartung des ersten kühlen Blonden vor mir aufgebaut. Die Kopierkosten und der Bibliotheksausweis würden sich schon amortisieren, trällerte ich frohgemut vor mich hin. "Na, Herr Kneiper, wie lässt es sich denn so an. Schon eine Leiche im Keller gefunden?,” fragte Frau Breiheim hinterhältig mit spitzen Lippen. Ich zuckte so lässig wie möglich mit der Schulter. Während ich noch verzweifelt über eine philosophisch tiefschürfende Antwort nachgrübelte, kam der Sprücheklopfer Döhlke hereinspaziert. Wie immer eher kleinwüchsig, aber stramm und offenkundig unerschütterlich in sich selbst ruhend. Trotz seines außergewöhnlichen Aussehens. Er trug einen Jogginganzug, Joggingschuhe der etwas teureren Marke und natürlich immer noch seinen Hut.

      "Aller Anfang ist schwer - nur Müßiggang, aller Laster Anfang, nicht. Sprichwort,” brüllte er uns entgegen, während er seinen Hut lässig auf den Ständer trudeln ließ. Der Mittelscheitel saß wie immer korrekt. "Zuviel kann mal wohl trinken, doch nie trinkt man genug. Gotthold Ephraim Lessing. Ha. Ein Korn, ein Bier! Was war das wieder für ein grausamer Schultag. Ich kann nur sagen: Hurra, wir verblöden. Volksmund.” Er schnaufte tief, während ich ihm seine erste gerechte Belohnung für den erlittenen harten Tag kredenzte.

      „Döhlke, genau dasselbe hast du gestern auch schon gesagt. Und überhaupt wollen wir doch heute über den Antritt der Erbschaft beraten,” versuchte ich den Oberstudienrat auf einen trockneren Dampfer zu bringen.

      Der Erbe winkte lässig ab. „Geschenkt,” prustete Döhlke. „Habe recherchiert, nachgedacht und ihr seid doch schon am Werkeln. Keine abgeschlossene Tür. Gleich gemerkt. Haha. Das passende Zitat liegt mi auf der Zunge. Nach Korn und Bier ziehen wir das alles kurz mal durch. Verteilen die Aufgaben und so.”

      Döhlkesche Sprachverwirrung? Auch seine Kleidung war irgendwie anders. Breiheim - der ausgemusterte Hobbyschauspieler - und seine rote Mona musterten uns unverhohlen zwischen skeptisch und freudig erregt, orderten aber brav eine neue Lage.

      In diesem Moment ging die Tür auf. Wie täglich durchmaß Schimmelpfennig den Raum, ohne das Gesicht irgendwo hinzuwenden, noch jemanden zu grüßen. Eilig verschwand er im Mantel auf der Herrentoilette, durchquerte nach zwei Minuten im gleichen raumfassenden Schritt die Gaststube und verschwand wie er gekommen war.

      Endlich ging die Tür erneut auf. Während Frau Mona Breiheim ein erstes Liedchen trällerte, schwebte das Molkereibesitzertöchterchen in die Gaststube. Die offen stehende Tür ließ die bei uns seltene Nachmittagssonne hereinblinzeln und tauchte den Schankraum in ehrwürdiges Gold. Sie schien außer hochhackigen Schuhen einen Heiligenschein zu tragen. Gekonnt tänzelte sie zu uns an den Tresen und blinzelte vor allem mich betörend an. Bildete ich mir zumindest ein.

      „Hier bin ich, wie abgesprochen. Ich mach dann die Theke bis fünf Uhr, damit ihr Erben alles richten und besprechen könnt.“ Abgesprochen? Mit wem? Hinter meinem Rücken! So ging das aber nicht. Döhke lächelte verräterisch. Der also. Mmmh.

      Wir trollten uns ins Hinterzimmer und ihr schillernder Blick verfolgte uns. Muffige Luft und zugezogene Gardinen erwarteten uns. Döhlke rümpfte die Nase, zog entschlossen die Vorhänge zurück und öffnete ein Fenster. Türkische Musik aus dem Nachbarhaus machte sich sanft