Jacques Varicourt

Die Villa


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sein, plötzlich, aus den bekannten Gründen, Besitzerin einer Villa in Nienstedten zu sein - wenn auch nur im begrenzten Rahmen, denn wir alle rechneten damals mit einer baldigen Rückkehr nach Deutschland, besonders natürlich mein Vater, der sehr an seiner Stadt hing. Für ihn war es ein unerfüllter Traum geblieben durch den Krieg, aber wie dem auch sei, ich war nun, stellvertretend für ihn, derjenige der alles in Augenschein nehmen musste, nicht nur aus der von mir bereits erwähnten Neugier, nein, ich machte mir um so vieles Sorgen, vielleicht unbegründet, vielleicht eher aus der verträumten Sicht eines Deutschen: Der mittlerweile einen amerikanischen Akzent hatte, welchen er nur allzu gerne „ganz“ verborgen hätte, aber wer kann schon über seinen Schatten springen? Dennoch gab ich mir während der Zugfahrt, als bei einem Zwischenhalt Fahrgäste mein Abteil betraten, die allergrößte Mühe, so deutsch, wie nur irgend möglich zu wirken. Ich grüßte also höflich, und das Ehepaar erwiderte meinen Gruß kopfnickend während sie sich schweigend niedersetzen. Ja, und ohne weitere Worte zu wechseln, vergrub ich mein Gesicht erneut hinter der Zeitung, die mir Halt und Sicherheit gab.

      Es mag dumm und als nicht-notwendig erscheinen, dass ich mich derartig verhielt, trotzdem, mir schauderte davor, dass irgendjemand mich darauf ansprechen könnte: Wie ich den Krieg überlebt habe? Warum ich „keine“ Kriegsverletzung habe? Usw. Oh ja, es war eine makabere Situation, es war in jeder Hinsicht schwer für mich und für andere die richtigen Worte in so einem Moment zu finden - würde ich in eine solche Verlegenheit geraten. Höchstens Frau Carina Lorenz, sofern sie meinem Vater noch keine Gesellschaft im unendlichen Himmelreich geleistet hatte, könnte für meine zwiespältige Lage Verständnis aufbringen. Der Briefkontakt mit ihr war vor genau einem Jahr abgerissen, eine sinnvolle Erklärung dafür gab es nicht. Wir hatten den Briefwechsel mit ihr vorwiegend auf die traditionellen Feierlichkeiten wie: Weihnachten und Ostern, Geburtstag und Namenstag gerichtet; nicht aus Faulheit, sondern wir wollten ihr (Carina) keine Schwierigkeiten bereiten während des Krieges, weil Post aus Amerika, eventuell als Spionagetätigkeit ausgelegt werden konnte, obwohl dem natürlich nicht so war. Ja, an alle diese Dinge musste ich so denken, während mich die Eisenbahn Richtung Hamburg fuhr, und mich wohl auch in sich behütete, wegen der Kälte, die absolut extrem war. Das Ehepaar gegenüber unterhielt sich sehr leise, dennoch konnte ich, ob ich nun wollte oder nicht, das ein- oder andere Wort aufschnappen. Alle beide sahen sehr mitgenommen aus, er erzählte von seinen Kriegserlebnissen: Von dem Grauen der Front, von Panzern, von Bombenkratern, von, mit Maschinengewehren ausgerüsteten Doppeldeckern die einen gezielt beschossen hatten, von Granaten die durch ihre Splitter- und ihre immense Druckeinwirkung den kämpfenden Soldaten ganze Gliedmaßen abgerissen hatten, oder auch gleich den Tod herbeiführten. Nach seinen Erzählungen hatte er die Kriegsgefangenschaft zwar überlebt, und er war auch dem lieben Gott dankbar dafür, aber er, und nicht nur er, hatte seine „Ehre“ verloren, die ihm einst so viel bedeutet hatte, als er im Fahnenmeer losgezogen war, um einen unabdingbaren Krieg zu führen, den ihm sein Kaiser einst schmackhaft gemacht hatte.

      Während er das so erzählte, mit schwacher, kaum verständlicher Stimme weinte er, und er schämte sich seiner Tränen nicht. Sie, seine Ehefrau, drückte ihn daraufhin an sich, schloss mit ihm die Augen, nahm seine Hand und sprach ihm Mut zu, um das Erlebte zu vergessen, zu verarbeiten, sofern das überhaupt möglich war für einen Kriegsheimkehrer, der dermaßen an dem Verlust der „Ehre“ litt. Ich konnte diese Gefühle nicht teilen, sie waren mir fremd und abwegig; sicherlich wurde auch bei uns immer kräftig gefeiert, wenn der Kaiser, vor dem Krieg, auf Durchreise in Hamburg war, aber, „Ehre“ strahlte der Mann auf unsere Familie nicht aus. Er wollte ja den Krieg, und als er ihn verloren hatte, verzog er sich feige in die Niederlande, darum fällt es mir schwer den Mann mit dem zu kurzen Arm als „ehrenvoll“ zu empfinden. Unsere eifrigen Geschichtsschreiber werden das eines Tages dementsprechend zu Papier bringen. Und während der mir gegenübersitzende Kriegsveteran wieder seine verweinten Augen öffnete, seine Ehefrau zwei Butterbrote auspackte und an zu essen fing, da sah ich auf meine Taschenuhr - noch ein paar Minuten und der Zug müsste im Hamburger Hauptbahnhof einlaufen, dann würde ich mir mein Gepäck aushändigen lassen, eine Kutsche würde mich Richtung Nienstedten fahren und ich wäre endlich wieder daheim, ach ja, „Home sweet home“.

      Genauso kam es auch, nur mit dem Unterschied, dass mich ein Automobil, samt meinem Gepäck in die heimische, nur noch ein wenig vertraute, Umgebung führte. Trotz der allgemeinen Not und des Elends, des an allem Mangelnden gab es Automobile, welche die Besucher der Stadt dort hinfuhren, wohin sie wollten. Ich hatte anderes erwartet, anderes gehört, dennoch war ich angenehm überrascht; denn wer schon einmal mit einer offenen Pferdekutsche bei drei Grad minus gefahren ist, der weiß, was ich meine. Der Taxifahrer sprach nicht viel, er hatte sich seine Schirmmütze, die offensichtlich bewusst etwas zu groß gekauft worden war, tief über die Stirn ins Gesicht gezogen, seine Lederjacke roch nach altem Fett, und zwischen den Zähnen spielte er mit dem Rest von einem Zahnstocher herum. Er fragte mich ob ich aus Hamburg sei, und ob ich Arbeit hätte, ich bejahte beides. „Es ist gut in diesen schlechten Zeiten Arbeit zu haben, denn wer jetzt auf der Strecke bleibt, der kriegt seinen Arsch niemals wieder hoch,“ sagte er zu mir, und behielt dabei seinen Blick auf der Straße. Ja, er hatte recht. Er war wohl „vor“ dem Krieg auch etwas anderes gewesen, und trotz seiner schmuddeligen Art, seiner Ausdünstung, die von seiner Jacke ausging, war an ihm, anscheinend, der Krieg, spurlos vorbei gegangen; ich kann das nicht erklären, es war nur so eine Art von Eingebung in dem Moment, als er mir während der Fahrt durch seine enorme Ruhe und seine Ausgeglichenheit, diesen Eindruck vermittelte, es war merkwürdig!

      Als wir endlich in Nienstedten ankamen, er mir das Gepäck vor die eiserne Eingangspforte des Elternhauses stellte, ich ihn entlohnte und wir uns gegenseitig noch einen guten Tag wünschten, da bekam ich weiche Knie. Alles sah so unverändert und so unberührt aus, - so wie wir es verlassen hatten, genauso stand es nun wieder vor mir. Im Hause brannte Licht, und innerhalb von ein oder zwei Minuten zogen sämtliche Erinnerungen, die mich mit unserem Haus verbanden, in mir, und an mir, vorbei. Ich blickte Richtung Sitzbank, dort unten am Strand hatten wir als Kinder gespielt, Steine gesammelt, ins Wasser geworfen, wir hatten geangelt und uns über jeden Fisch, besonders, wenn es sich um Stint handelte, wenn wir ihn fingen, gefreut. Vater war im Sommer immer mit uns über die Elbe auf die andere Seite gerudert, um Schilfrohre und Weidenkätzchen zu sammeln. „Mein Gott," dachte ich so bei mir, „war das wirklich alles längst schon Vergangenheit? War das wirklich vorbei? Oder konnte ich mich nur mit der Realität nicht abfinden?“ Die nach diesem verdammten Krieg wie eine Krankheit an „meiner“ Ehre fraß. Also drehte ich mich langsam wieder um, Richtung Elternhaus, öffnete die Eisenpforte und erwartete eigentlich gar nichts. Doch plötzlich öffnete sich auch die Tür zum Haus. Carina Lorenz kam zum Vorschein. Sie trug ein hübsches, dunkles Kleid und es schien, dass sie mich erwartet hätte, denn sie wirkte so feierlich, so nett, so distanziert freundlich, so, wie es eben nur sie sein konnte. Sie hob ihre Hände wie zum Gebet, senkte sie nach einem Augenblick wieder und streckte sie mir dann entgegen. „Markus, ich begrüße dich, gib` mir dein Gepäck her, ach, und wie geht es dir? Wie war die Überfahrt? Gab es Sturm?“ Fragte sie mich während ich das Haus betrat. Ich konnte nicht sofort antworten, ich war noch wie betäubt von dem Gefühl wieder in unserem alten Haus zu sein, welches von meinem Vater einst zur „Uneinnehmbaren Festung“ erklärt wurde; natürlich hatte er das nur aus Spaß, und zu seinen Lebzeiten gesagt, aber als meine Blicke durch die vertrauten Räumlichkeiten glitten, da musste ich ihm, nachträglich, beipflichten. Denn nichts hatte sich verändert, nichts war verfälscht oder mit Trostlosigkeit übergestrichen worden, alles beinhaltete noch den alten Geist der Vorkriegszeit, die mir, gedanklich, so nahe gestanden hatte, als ich in New York das Schiff Richtung Bremerhaven betrat. Seit langer Zeit hatte mich auch endlich mal wieder jemand mit meinem richtigen Namen angesprochen - Markus, und nicht mit „Marc Hyatt“, so wie ich mich in Amerika nennen musste. Ja, aus Marc Hyatt war anscheinend wieder Markus Handke geworden. Carina, die übrigens nur vier Jahre älter war als ich, bot mir von sich aus das „du“ an, weil früher, als sie unser Hausmädchen war, da musste ich immer und ewig „Fräulein Lorenz“ zu ihr sagen, das war nun vorbei, wir unterhielten uns von gleich zu gleich. Herrlich. Bei einem steifen Grog mit viel Rum begannen wir beide zu erzählen. Ich fing an und hörte nicht mehr auf, ich überschüttete sie mit Fragen, ich verlor ein wenig die Kontrolle über meine ungezügelte Wissbegier, aber sie zeigte Verständnis und lächelte mich mit glänzenden Augen an. Schön