Ernst Minar

Lebensmotor Bewegung


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      Doch jedes Jahr wird eine neue Sportpille vorgestellt. Ein Allheilmittel, gepriesen wie der Stein der Weisen. Der pharmakologische Ersatz für die Bewegung, gewonnen aus irgendwelchen Extrakten oder erzeugt im Labor.

      Zum Beispiel bei der alljährlichen „Exercise is Medicine“-Tagung. Das ist eine US-amerikanische Non-Profit-Organisation, die sich mit den neuesten Erkenntnissen zum Thema Sport und Bewegung und deren Einfluss auf die Gesundheit der Menschen beschäftigt. „Exercice is Medicine“ stellt sich die Frage: „Wie bleiben wir länger gesund?“

      Die Ernüchterung folgt schnell und immer dann, wenn diese Mittel zum Einsatz kommen. Sie wirken nicht.

       Es gibt kein Medikament, das die Bewegung ersetzt

      Auch wenn die Pharmaindustrie uns immer wieder die Karotte vor die Nase hält: Der Mensch ist angehalten, mehr zu tun, als die kristalline Essenz aus einem mexikanischen Kaktusgewächs zu schlucken.

      Früher wurde Patienten nach einer Operation geraten, bis zu einer Woche im Krankenbett liegen zu bleiben. Neueste Studien zeigen jedoch, dass genau das Gegenteil förderlich ist: Wenn der Patient 24 bis 48 Stunden nach der Operation aufsteht und sich bewegt, funktioniert die Regeneration deutlich besser.

      Das stellt das Konzept der Krankenhäuser infrage. Denn Spitäler sind darauf ausgelegt, dass die Patienten in ihren Betten liegen bleiben – jeder Patient hat heute ein Bett und einen Fernseher. Privatpatienten mit VIP-Sternchen auf dem Namensschild dürfen sich neben dem Arzt auch noch das Menü aussuchen. Das heißt nicht, dass sie deshalb früher entlassen werden, im Gegenteil. Sie sollen liegen bleiben und zur Beobachtung noch eine Nacht oder zwei dableiben. Die Versicherung kommt dafür auf.

      Ein Team von Architekten aus Dänemark hat sich mit dieser Problematik beschäftigt. Ihr Lösungsansatz war, Sozialräume zu schaffen, die Patienten motivieren, aufzustehen, um diese Zimmer mit anderen Menschen aufzusuchen. Der Sinn liegt in der Mobilität. Wer geht, lebt. Wer liegt, bleibt liegen.

       Der holistische Zugang zur Natur des Menschen

      Bewegung hält auch geistig fit und hat einen holistischen Zugang zu unserem Körper und unserer Gesundheit. Sie beeinflusst das Herz-Kreislauf- sowie das Nervensystem. Genauso ist es bei der Ernährung. Sie dient nicht nur zum Sattwerden, sie versorgt uns mit wichtigen Bausteinen zum Aufbau des Körpers, mit Mineralien, Vitaminen und sekundären pflanzlichen Stoffen. Das funktioniert über verschiedene molekularbiologische, zelluläre Prozesse, über die mechanische Natur unserer Organe.

      Bewegung hilft der Verdauung. Welche biochemischen Folgen haben Bewegung und Sport? Welche Rolle spielen freie Radikale beim Sport? Und wie verteidigt sich unser Körper gegen sie? Beim Rauchen, Trinken oder bei Erkrankungen? Wie bereitet uns Bewegung überhaupt drauf vor? Welche Zellen werden motiviert, richtig zu arbeiten? Und was macht das dann mit dem Rest unseres Körpers?

      Körperkult und Gesundheitskult werden immer wichtiger. Wir brauchen uns nur den beliebtesten Social-Media-Kanal bei Menschen unter 35 anzuschauen. Fast jeder zweite Instagram-Account beschäftigt sich mit dem Thema Abnehmen oder mit irgendwelchen Trainingsmethoden, um den „perfekten Po“ zu bekommen. In Kombination mit dem oft fehlenden Vertrauen in unser Gesundheitssystem sieht man immer mehr präventive Diagnostik-Tools am Gesundheitsmarkt. Es ist ein wachsender Trend im südostasiatischen Raum, dass immer mehr Personen ihre Gesundheit selbst in die Hand nehmen und sich auf verschiedenste neue Methoden verlassen.

      Sie lassen ihren genetischen Background messen, im Fachjargon Nutrigenetik genannt, um zu sehen, welche Ernährung sie besser verdauen können und welche nicht. Bei der Nutrigenetik kann festgestellt werden, wie der Körper auf Alkohol reagiert. Oder auf oxidativen Stress. Oder auf die Aufnahme von bestimmten Vitaminen.

      Ein zweiter großer Trend neben der Nutrigenetik ist die Vermessung der Mikrobenwelt – des Mikrobioms. Da untersuchen wir die Bakterien im Körper. An vorderster Front steht hier der Darm. In unserem Körper haben wir einen Tunnel, in dem die Außenwelt lebt. Man spricht deswegen von einem Epithel, griechisch für Außenfläche. Auf dieser Außenfläche leben viele unterschiedliche Bakterienzellen – rund, stäbchenförmig, als Einzelgänger oder in großen Gruppen. Es ist ein lebendiges Röhrensystem, das durch den Körper geht. Was unser Körper benötigt, wird absorbiert, der Rest wird unseren Untermietern überlassen oder ausgeschieden. Davon wird später noch die Rede sein.

       Bewegung ist wichtiger als Fasten und Ernährungsweisen

      Auch unser Immunsystem wird durch körperliche Arbeit und Bewegung unterstützt. Da werden verschiedene Hormone ausgeschüttet, die Einfluss auf unser Hungergefühl oder Glücksgefühle haben. Bewegung unterstützt Denkprozesse, Abläufe im Gehirn gestalten sich effizienter. Bewegung fördert auch unseren genitalen Trakt und die Funktion der Organe. Wir wissen, dass der Mensch durch unterschiedliche Ernährungsweisen wie intermittierendes Fasten oder mediterrane Ernährung sowie durch die Behandlung von Krankheiten im frühen Stadium länger und gesünder leben kann. Alles schön und gut.

      Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass die Bewegung aber einen viel stärkeren Einfluss darauf hat.

      Sie ist der Lebensmotor.

      Fitnessuhren und Schrittzähler sind vor gut zehn Jahren aufgekommen und wurden seitdem stetig verbessert. Sie sind digitale Helferlein, die den ganzen Tag lang Werte erfassen. Die WHO hat die Empfehlung ausgegeben, täglich 10.000 Schritte zu gehen. Eifrige Menschen gehen abends noch einmal außer Haus, um die letzten 2.000 Schritte für ihr Tagessoll runterzuspulen. So genau müssen wir das nicht nehmen. Wer zwischen 5.000 und 10.000 Schritte täglich schafft, ist immer noch gut unterwegs. Darunter bedeutet einen Mangel an Bewegung. Weniger als 5.000 Schritte sind der Beginn vom großen Ende. Wir laufen Gefahr krank zu werden, physisch und psychisch.

      Auch der Schlafrhythmus spielt eine bedeutende Rolle für unsere Gesundheit. Mit den digitalen Helferlein können wir ihn messen. Die Albträume nicht.

      Im Silicon Valley lassen die CEOs einiger Unternehmen sogar wöchentlich ihr Blut untersuchen, um mit dieser Dichte an Daten mögliche Krankheiten schon im Vorhinein zu erkennen. Viele Menschen möchten derlei Geräte nicht nutzen, da sie ihre persönlichen Daten nicht mit den Anbietern teilen wollen. Wie die Daten ausgewertet werden und was damit wirklich geschieht, ist nicht ganz geklärt. Dass diese Geräte hilfreich sind, steht fest, es kommt nur darauf an, wie sie genutzt werden. Im Notfall fragen Sie Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg.

      Auch wenn das Mikrobiom, die Genetik oder die digitale Erfassung unserer Werte zum Verständnis und zur Optimierung unseres Körpers beitragen können, sind die Daten, die sie liefern, nur Puzzleteile. Es gibt viele Wissenschaften, die hier ebenfalls mit ins Spiel kommen, beispielsweise die Epigenetik. Sie untersucht, welche Faktoren die Aktivität eines Gens und damit die Entwicklung der Zellen festlegen. Das spielt eine große Rolle bei unserer Gesundheit. Nicht nur die Feststellung, ob der Körper über genügend Proteine verfügt, sondern auch deren Form ist wichtig. Damit beschäftigt sich die Proteomik. Daneben gibt es noch andere zwischenbiologische Stufen, die die Gesamtheit des Menschen zu beschreiben versuchen.

      Ein Trend – wenn man es so ausdrücken will – ist die präventive Medizin. Es wird immer wichtiger, dass wir nicht nur Krankheiten heilen, sondern sie erst gar nicht bekommen. Die Vorbeugung hat nicht nur mit unserer Genetik zu tun, sondern viel mehr mit unserem Lebensstil. Und der größte Faktor dabei ist die Bewegung.

      Wer ein Flugzeug baut, muss sich im Voraus und ganz genau überlegen, wie es gebaut werden soll, damit es optimal funktioniert. Beim Körper ist es genau andersrum. Wir haben einen Körper und versuchen noch immer zu verstehen, wie er funktioniert. Wir analysieren und lernen unser Flugzeug zu begreifen, während wir fliegen. Dem Verständnis kommen wir immer näher, und wir hoffen, dass das Flugzeug nicht abstürzt.

      Was passiert mit unserem Körper, wenn wir trainieren? Wie wird die Leber oder wie werden die Nieren belastet? Denn beim Training stressen