Lara Myles, Barbara Goldstein

In Gedanken bei dir: Sonderausgabe mit vielen Fotos


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stand fest: Sie beide, Alex und sie, hätten sich mehr Zeit füreinander nehmen sollen, für ihre Liebe und ihr Glück.

      Nun war es zu spät.

      Mit dem Daumen strich Cassie über das verschmitzt lächelnde Gesicht des Playmobils am Fallschirm, dann hängte sie die Figur zurück an Jolies Infusionsständer und wischte sich die Tränen ab.

      Alex’ Brief, den sie heute Morgen gelesen hatte, hatte sie ...

      Es klopfte leise, und die Tür öffnete sich.

      Dr Mayfield kam herein. Bevor sie die Tür hinter sich zufallen ließ, sah Cassie auf dem Gang das Fernsehteam von CBS San Francisco. Wo war Jolie? Sie musste doch erst mit ihr darüber reden!

      »Hallo, Cassie.«

      »Hallo, Karen.«

      Mit verkniffenem Gesicht und hängenden Schultern kam Karen mit den geballten Fäusten in den Taschen ihres weißen Kittels auf sie zu. Offenbar wollte sie etwas sagen und wusste nicht wie.

      Cassie las in ihren Augen, ihrer Stimme, ihrer Haltung und ihren beherrschten Gesten.

      Karen, sonst die taffe Chefärztin, wirkte verletzlich. Ihr trauriger Blick sagte mehr als alle einfühlsamen Worte, mit denen sie das Schreckliche aussprach und das Befürchtete wahr machte: Jolie würde sterben.

      Auch die besten Ärzte, die Mitfühlenden, die inmitten piepsender Geräte Menschlichkeit und Herzenswärme zeigen konnten, waren für diese belastende Aufgabe nicht ausgebildet. Mit dem Gefühl der Ohnmacht musste Karen den verwaisten Eltern mitteilen, dass ihr Leben nie wieder so sein würde, wie es einmal war, unbeschwert und glücklich.

      Der verzweifelte Schrei blieb Cassie in der Kehle stecken. Stöhnend rang sie nach Luft und wimmerte wie erstickt.

      Karen umarmte sie und hielt sie fest. »Es tut mir leid, Cassie«, versuchte sie, die Wucht der Angst und des Schmerzes zu lindern. »Er tut mir so unendlich leid.«

      Cassie lehnte die Stirn gegen Karens Schulter und schluchzte auf.

      Die Chemo ... die Blutwerte ...

      Es ist so weit. Jetzt.

      »Jolie?«, presste Cassie hervor, während sie gegen die körperlichen Reaktionen des Schocks ankämpfte: Sie begann zu schwitzen, sie zitterte, ihr war schwindelig, und sie fürchtete, ohnmächtig zu werden. Sie fühlte sich wie im freien Fall, als würde sie gleich hart aufprallen, als würde sie gleich sterben.

      »Sie weiß es, Cassie. Ich hab’s ihr gerade gesagt.«

      Die Hoffnung stirbt nicht. Sie krepiert qualvoll über Wochen und Monate.

      »Wie geht’s ihr?«, schniefte Cassie an Karens Schulter.

      »Sie ist gefasst, ein tapferes kleines Mädchen. Sie ist so stark wie du, Cassie.«

      Meine Tochter stirbt.

      Ich würde mein Leben für sie geben, wenn sie nur weiterleben dürfte. Sie ist das Wertvollste in meinem Leben.

      Cassies Knie zitterten, sie taumelte, und Karen führte sie behutsam zum Bett. »Setz dich, Cassie.«

      Karen hockte sich neben sie und legte ihre Hand auf Cassies. Es war ein Zeichen der Verbundenheit. Karen nahm dieselbe versunkene Haltung ein wie Cassie und brachte sie auf diese Weise dazu, dass sie sich aufrichtete. Ein psychologischer Trick, ja klar, aber er wirkte.

      Dr Mayfield war mehr als nur Jolies Kinderonkologin, die ihre Krankheit festgestellt hatte, als sie vier war, und die sie seitdem behandelte. Karen war eine Freundin, die Cassie durch ihre offene, unkomplizierte Art Hoffnung und Zuversicht gab. Seit einer durchwachten Nacht an Jolies Bett, die auf der Intensivstation der Kinderklinik mit dem Tode rang, duzten die beiden Frauen sich.

      Die Chefärztin der Kinderonkologie und Expertin für Intensivmedizin arbeitete fast immer am Limit. Welche Belastung war es für Karen, wenn sie monatelang vergeblich um das Leben eines Kindes rang! Aber sie hatte noch die Kraft, sich Cassies Gefühlen zu stellen, und das rechnete Cassie ihr hoch an.

      »Wo ist Jolie?«

      »Bei Nell«, sagte Karen sanft. »Sie ist letzte Nacht gestorben.«

      Cassie nickte schwach. »Finn hat es mir eben erzählt.«

      »Ich wollte es dir sagen. Tut mir leid.«

      »Schon gut. Karen ...« Cassie holte tief Luft.

      Dr Mayfield ahnte, was sie sagen wollte und drückte ihre Hand. »Nein, Cassie.«

      »Aber es ist ihre letzte Hoffnung!«

      »Nein, Cassie«, wiederholte Karen eindringlich und besonnen. »Als Mutter kommst du als Spenderin nicht infrage. Du hast ihr das Leben geschenkt, aber du kannst sie nicht retten. Jolie hat die Hälfte der HLA-Merkmale von dir, die andere Hälfte von Alex.«

      Cassie atmete langsam aus.

      Alex.

      Sein Brief.

      Die Dokumente, die sie unterschreiben sollte.

      Sie lagen noch auf ihrem Schreibtisch, wo sie sie gelesen hatte ... wo sie Alex gegoogelt hatte ... wo sie herausgefunden hatte, wo er jetzt lebte. Sie waren der Beweis dafür, dass alles, was ihr wichtig war, von einem Tag auf den anderen zu Ende gehen konnte ...

      Mit beiden Händen fuhr Cassie sich über das glühende Gesicht. Dann betrachtete sie das Foto auf Jolies Nachttisch von ihnen beiden am Strand. Nick hatte die Aufnahme im sanften Gegenlicht des Sonnenuntergangs über dem Pazifik gemacht. Hand in Hand ging Cassie mit Jolie über den schimmernden nassen Sand, der den Himmel, die Wolken und die Sonne spiegelte. Jolie hopste kichernd neben ihr durch die Gischt der heranrollenden Wellen. Dabei berührte sie ihren reflektierten Schatten nicht, und es sah so aus, als tanzte ihr funny little girl über Wolken aus fliederfarbenem und orangerotem Licht.

      Das Foto einer glücklichen Familie, so erschien es auf den ersten Blick: Mommy, Daddy und ihre süße Kleine am Strand. Aber so war es nicht. Denn das Foto war am Abend vor Jolies Zusammenbruch und der Untersuchung durch Dr Mayfield aufgenommen worden.

      Karen missverstand ihre hochgezogenen Schultern, ihre ineinander verkrampften Hände. Sie legte ihre Hand auf Cassies Arm. »Ich werde nicht transplantieren, Cassie. Wenn ein Kind an einer unheilbaren Krankheit stirbt, ist das etwas, womit ich als Ärztin gelernt habe umzugehen. Aber wenn ein Kind an den Folgen eines Eingriffs, den ich vorgenommen habe, qualvoll zugrunde geht, kann ich das als Mensch nicht verantworten. Tut mir leid, Cassie. Die Abstoßungsreaktion ist das Schlimmste, was du dir vorstellen kannst, das Schrecklichste, was du deiner Kleinen antun kannst. Ich kann dein Kind nicht heilen, wenn wir keinen passenden Spender finden, und ich will Jolie nicht zu Tode quälen.«

      Cassie nickte langsam. Ihr Nacken war so verkrampft, dass die Bewegung schmerzte. »Wie lange noch?«

      Karen schnaufte durch die Nase. »Ich weiß es nicht.«

      »Monate?«

      »Nein, Cassie.«

      »Wochen?«

      Karen nickte stumm.

      Cassie barg das Gesicht in beiden Händen und schluchzte auf. Der Schmerz in ihr war unerträglich. Er zerriss sie.

      »Ich kann gut verstehen, wie du dich jetzt fühlst, Cassie. Du hast panische Angst. Du bist wütend, traurig und hilflos. Du willst schreien und um dich schlagen. Dein Kind zu verlieren!« Karen atmete tief durch. »Natürlich willst du alles tun, um Jolies Leben zu retten. Du schenkst ihr Liebe, Geborgenheit, Sicherheit. Du erklärst ihr anhand von Bilderbüchern für Kinder, warum sie so leiden muss.

      Du und ich, Cassie, wir haben alles getan, wirklich alles. Spritzen. Infusionen. Tabletten. Einspritzungen in die Wirbelsäule. Bluttransfusionen. Operationen. Bestrahlungen. Morphiumspritzen gegen die Schmerzen. Antibiotika gegen die Infektionen. Wochenlang lag deine Kleine im Halbkoma auf der Intensivstation. Deine Tochter lebt in diesem Zimmer, hier hat sie zwischen Hoffnung und Todesangst die schlimmsten Stunden ihres Lebens