Klaus F. Geiger

Trotz Corona


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Menschen dringend gebraucht wird – plötzlich nicht mehr für einen Preis im Cent-Bereich angeboten wird, sondern zu horrenden Wucherpreisen.

       Er merkte, wie ihm das Schreiben gut tat. Endlich wieder handeln, selbstbestimmt handeln. Es war ein Ersatz für all die Tätigkeiten, die wegen der verordneten Kontaktbeschränkungen weggefallen waren. Und es war noch mehr: Gegengift gegen die Haltung, welche die Pandemie ihm und nicht nur ihm aufzwang, das Warten. Ein ängstliches Warten: Wird dieses große Es, dieses unsichtbare Es an uns vorübergehen? Ein Warten der leisen Hoffnung: Wird die Kurve der Neuinfektionen sich bald abflachen, vielleicht nach unten neigen? Als ob sich ändernde statistische Wahrscheinlichkeiten ihn sicher aus der Schusslinie nehmen würden.

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      Ich bin ein eher ängstlicher Mensch, ja, ich habe eine Neigung zur Hypochondrie. Deshalb bin ich über mich selbst verwundert, wie ruhig ich die täglichen Horrormeldungen in Zeitungen und Fernsehen aufnehme: täglich steigende Zahlen von Infizierten, eine Kurve, die sich abflachen soll, aber nicht abflacht, wachsende Zahlen von Toten, Nachrichten aus Nachbarländern, wo Menschen über achtzig nicht mehr behandelt werden, weil nicht genug Ärzte, Pfleger, Geräte, Medikamente, Schutzausrüstungen zur Verfügung stehen (und ich werde bald achtzig werden), wo Armeelastwagen Särge abtransportieren, weil die lokalen Krematorien überlastet sind (und ich will nicht sterben). Aber diese grausame Wirklichkeit erschüttert mich nicht – weil ich sie nicht als Wirklichkeit wahrnehme und auch nicht als etwas, das in meiner Nähe stattfindet, mir nahe kommen kann. Diese Bedrohung hat etwas Nichtfassbares, etwas Abstraktes. Ich rezipiere sie als Medienereignis.

       Tatsächlich blieb er beim Lesen, beim Fernsehen, beim telefonischen Austausch über die Pandemie ruhig. Doch dann, mitten in der Nacht, sprang er aus dem Bett, musste um ein Uhr Fieber messen, konnte nicht mehr einschlafen. Tatsächlich reagierte er auch am Tage auf jede Art von Problem nervös. Das kleinste Malheur, wie man in seiner schwäbischen Heimat sagen würde, raubte ihm den Atem.

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      Ein kleiner Ort im Gebirge, der vom Wintertourismus lebt. Eine mit Gästen gefüllte Kneipe, Après-Ski. Eine Erkrankung eines Angestellten, die verschwiegen wird. Waren da nicht im Radio Nachrichten über eine Epidemie in China? Gab es nicht bereits im Nachbarland erste Infektionen mit dem neuen Virus? Aber wer lässt sich schon die Gaudi nehmen, und das Geldverdienen? Als die Infektion vor Ort bekannt wird, schickt man die Gäste fort. Und sie fahren mit Bus, Zug oder Auto in ihre verschiedenen Heimatländer. Und verbreiten dort die neue Krankheit.

      Selten ist so deutlich geworden, wie eine Kombination aus Dummheit und dem Schielen auf den kurzfristigen Gewinn Schäden anrichtet – und zwar in Zeiten der internationalen Vernetzung Schäden nicht nur vor Ort, sondern über Grenzen hinweg.

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      Ich erinnere mich: Zu Beginn der Krise, damals, als noch darum gestritten wurde, ob dieses neue Virus regional begrenzt bleiben oder eine weltweite Epidemie, eben eine Pandemie auslösen würde, da verlautbarten all die Gesundheitsexperten und Politiker Beruhigendes. Sie beschwichtigten, bei dem neuen Virus handele es sich um einen Erreger, der harmloser sei als die Grippe, die wie jedes Jahr zu Erkrankungen und Todesfällen führe. Ja, noch zwei Wochen, nachdem auch in Deutschland die Zahl der Infizierten stieg, verkündete ein Vertreter eines virologischen Instituts, es gebe Anzeichen, dass sich die Kurve der Neuinfektionen abflache, das ließe sich aber erst zwei Tage später interpretieren. Doch zwei Tage später und bis heute war keine Rede mehr davon.

      Heute gibt es eine erhitzte Debatte: Hätten die Erklärungen zu Beginn ernsthafter, die Warnungen deutlicher sein, die staatlichen Maßnahmen und die Vorbereitungen im Gesundheitssystem frühzeitiger stattfinden sollen? Hätten Politiker und Gesundheitsexperten früher wissen müssen – und entgegen jedem Wunsch, nur ja keine Panik auszulösen auch früher sagen müssen -, was seitdem wie eine Welle auf uns zurollt?

      Ich weiß es nicht, und um diese Fragen geht es mir auch nicht primär. Was ich mir wünsche, ist etwas, was offensichtlich nur wenige Politiker und Wissenschaftler fertig bringen: zu sagen, dass sie sich geirrt haben, vielleicht sogar sich zu entschuldigen dafür, dass sie falsche Erwartungen geweckt haben.

      In kritischen Medien finde ich den Vorwurf, die staatlich verordneten und von Bürgerinnen und Bürgern mehrheitlich akzeptierten Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte schadeten langfristig der Demokratie. Allerdings werden die Kritiker in der Frage, wie Staat und Institutionen hätten anders agieren sollen, auffallend unkonkret. Mir scheint, wenn häufiger ein Experte oder ein Politiker öffentlich eingestehen würde, sich in dem und dem Punkt geirrt zu haben, wäre die befürchtete Gefahr einer demokratisch nicht legitimierten Politiker- oder Expertenherrschaft zumindest ein wenig geringer.

       Am Abend des Tages, als er dies geschrieben hatte, sendete das Fernsehen – wie jeden Tag – eine Sondersendung zur Coronavirus-Krise. Und wie jeden Tag schaltete er nicht um oder ganz ab, obwohl er wusste, dass ein Großteil der Sendung weder sein Verständnis der Pandemie, ihrer Folgen, der politischen Entscheidungen usw. erweitern, noch einen Einfluss auf sein persönliches Verhalten haben würde. In dieser Sendung trat der Leiter eines führenden Immunologie-Instituts auf – und antwortete auf die Frage, wie er den Verlauf der Epidemie voraussehe und ob man seiner Meinung nach in zwei Wochen die Kontakteinschränkungen in der Bevölkerung lockern könne, damit, dass er das nicht wisse, dass kein Experte momentan in der Lage sei, hierauf eine seriöse Antwort zu geben: „Es gibt zu viel, was wir über dieses Virus noch nicht wissen.“

       Bravo, dachte er. Endlich einmal ein Experte, der Unwissen zugibt und uns Laien zutraut, mit Unwissen „auch an höchster Stelle“ umgehen zu können. Dabei wusste er wohl, dass es in ihm – neben dem „Bravo“ – auch die leise Stimme gab, die ihm sagte: Eigentlich wäre mir eine klare Aussage, das und das ist so, das und das wird kommen, so und so werden wir entscheiden, lieber gewesen.

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      Wenn jemand in meiner Gegenwart niest, sage ich „Gesundheit!“ (Und manchmal fällt mir dabei die Reaktion eines Lehrers in dem von mir besuchten Gymnasiums ein. Er nieste, wie im Chor wünschte ihm die ganze Klasse: Gesundheit. Der Lehrer freilich explodierte, er verbitte sich dermaßen respektloses Verhalten. Warum? Ich vermute, weil wir auf einen menschlich-leiblichen Vorgang reagierten, den wir zu ignorieren hatten, wo es um eine Respektperson ging.) Ähnlich reagieren Menschen in anderen Ländern, wobei die Wünsche differieren. In der Türkei zum Beispiel wünscht man: ein langes Leben.

      Und heute, in Coronavirus-Zeiten? Wenn meine Frau niest, beglückwünsche ich sie. Ich erinnere mich nämlich jedes Mal an eine Tabelle in meiner Tageszeitung, ganz zu Beginn des Auftretens von Coronavirus-Infektionen in Deutschland. Zweck dieser Tabelle war offensichtlich, bei Leserinnen und Lesern keine Panik aufkommen zu lassen, zu vermeiden, dass sie bei einem Schnupfen bereits befürchteten, von dem neuen, unbekannten Virus befallen zu sein – und deshalb die Arztpraxen zu überrennen. Diese Tabelle also hatte drei Spalten. Links waren Symptome aufgelistet (Fieber, Kopfschmerzen, Halskratzen usw.). Die beiden anderen Spalten waren mit „Coronavirus“ und „grippaler Infekt“ überschrieben. Hier wurde aufgeführt, ob ein Symptom bei einer Coronavirusinfektion einerseits und bei einer einfachen Erkältung andererseits „häufig“, „selten“ oder „nie“ auftritt. Und in der letzten Zeile hieß es: „Niesen“ sei bei der Erkältung „häufig“, bei der Coronavirusinfektion hingegen trete es „nie“ auf. NIE!

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      Es gibt nicht wenige Kommentare, die in der aktuellen Krise, wo es um Tod oder Leben von Hunderttausenden von Menschen geht, den Begriff „systemrelevant“ gebrauchen. Die Kommentatoren setzen in feiner Ironie voraus oder sprechen deutlich aus, dass sie den Begriff aus einer Debatte entleihen, in der es vor zwölf Jahren um die globale