Christoph Wagner

Metastasen eines Verbrechens


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Fritjof Fries tatsächlich ein Naziverbrecher war, wie würde man ihm jetzt noch beikommen können? Die meisten Spuren waren doch unwiederbringlich zerstört. Sicher, es hatte spektakuläre Fälle der Entdeckung gegeben. Aber wie viele konnten sich bis zu ihrem Lebensende in Sicherheit bringen? Wahrscheinlich mehr als man glaubt. Er merkte, wie schwer es ihm fallen würde, hier mit der nötigen Distanz zu ermitteln. Er erinnerte sich, wie er als Zehnjähriger beim Stöbern in alten Familienalben ein uraltes Hochzeitsfoto gefunden hatte. Seine Mutter hatte ihm daraufhin erklärt, das sei sein Opa, der im Krieg gefallen war, mit seiner ersten Frau. Die wäre kurz nach der Hochzeit gestorben. Er hatte bereits damals gespürt, dass da irgendetwas nicht stimmte. Sehr viel später fand er dann heraus, was tatsächlich geschehen war. Auf diesem Foto war ein Verräter abgebildet. Er war damals sehr wütend auf seine Eltern, dass sie ihm nie die Wahrheit gesagt hatten. Er wusste, um Lewandowskis Verdacht genau abzuklären, würde er notfalls auch nach Argentinien fliegen. Das war er dieser Frau schuldig.

      Sie waren über den Uniplatz gefahren, in die Hauptstraße eingebogen und hielten vor dem Museum. Scheint ein Barockbau zu sein, dachte Travniczek, als sie durch das von korinthischen Säulen flankierte und mit einem Balkon überdachte Eingangstor eilten. Ein Durchgang führte sie auf die Rückseite des Gebäudes in den Museumsgarten. Hier befand sich der eigentliche Eingang. An dem Original der Kornmarktmadonna* vorbei kamen sie in den ersten Stock, durchquerten einige Räume, ohne auf die Exponate zu achten, und erreichten einen fast quadratischen Saal, dessen Wände tiefrot gestrichen waren. In diesem Raum befand sich ein einziges Ausstellungsstück, das die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog: der Zwölfbotenaltar von Tilman Riemenschneider.

      Travniczek musste sich zu seiner Schande eingestehen, dass er noch nie in diesem Museum war, obwohl er jetzt schon fast ein Jahr in Heidelberg lebte. Im Raum waren die in Schutzanzüge gehüllten Mitarbeiter der Spurensicherung bei der Arbeit. Aber der erste Blick des Kommissars ging zum Altar, und sogleich zogen ihn die individuell gestalteten Gesichter der einzelnen Figuren in ihren Bann. Es fiel ihm schwer, sich davon loszureißen und auf die auf dem Bauch liegende Leiche zu sehen. Der Gerichtsmediziner, Dr. Melchior, war schon bei der Arbeit.

      „Können Sie schon etwas sagen?“, fragte Travniczek vorsichtig, denn er wusste, wie empfindlich Melchior reagieren konnte, wenn er bei der Arbeit gestört wurde.

      „Eine Sache ist diesmal gleich klar. Der Tod ist vor maximal einer Stunde eingetreten. Aufgesetzter Schuss in den Hinterkopf, sicher mit Schalldämpfer, eine Art Hinrichtung.“

      „Das bedeutet, der Tote ist wenige Minuten nach der Tat gefunden worden.“

      „Sieht so aus.“

      In diesem Augenblick versuchte ein kleiner, wohlbeleibter Herr mit Halbglatze, angetan mit einem dunkelblauen dreiteiligen Maßanzug und weinroter Krawatte, in den Raum zu gelangen, wurde aber von einem der Ermittler recht unsanft daran gehindert.

      „Ich muss unbedingt den für die Ermittlung hauptverantwortlichen Polizisten sprechen!“, schimpfte er mit durchdringender Tenorstimme. Travniczek sah zu ihm hinüber und ging auf ihn zu.

      „Lasst den Mann durch“, sagte er zu seinen Mitarbeitern. An den kleinen Dicken gewandt fuhr er fort: „Mit wem spreche ich bitte?“

      „Ich bin Dr. Dr. Justus Semmelroth, Direktor des Museums. Sind Sie der leitende Ermittler?“

      „Ja, der bin ich, Joseph Travniczek.“

      „Können Sie schon sagen, was hier eigentlich passiert ist?“

      „Mehr als Sie selbst sehen auch nicht. Hier wurde ein Mann am helllichten Tag erschossen. Aber ich hoffe, dass Sie bzw. Ihre Mitarbeiter mir helfen können, mehr zu erfahren. Rufen Sie bitte alle zusammen, die hier heute Morgen bis jetzt Dienst hatten. Ich will sie in spätestens einer Viertelstunde sprechen.“

      „Muss das wirklich jetzt gleich sein? Wir stehen doch alle noch unter Schock.“

      „Ja, das muss jetzt gleich sein. Ein Mord ist immer ungemütlich, da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Wo sind übrigens die Museumsbesucher, die zum Zeitpunkt der Tat hier waren?“

      „Die habe ich alle weggeschickt.“

      „Das hätten Sie nicht tun sollen. Das sind ja alles potentielle Zeugen, die wir befragen müssen.“

      „Ja, woher soll ich das denn wissen? Mir ist jetzt vor allem wichtig: Wann können wir das Museum wieder öffnen?“

      „Das wird auf jeden Fall dauern. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss hier meine Arbeit machen.“

      Travniczek drehte sich abrupt um.

      „Dummkopf“, brummte er vor sich hin und erschrak über sich selbst, weil er nicht sicher sein konnte, dass der Herr Direktor das nicht gehört hatte. Aber dann kam ihm der Gedanke: Vielleicht ist der gar nicht so dumm, sondern tut nur so.

      „Das hier ist Herr Walter Hauschild“, sagte Brombach zu Travniczek, der sich wieder dem Geschehen am Tatort zugewandt hatte. „Er ist der Aufseher, der den Toten gefunden hat.“

      Hauschild war ein kleiner Mann, wohl in den Sechzigern, gebeugter Rücken, schütteres, ergrautes Haar. Er wirkte sehr verstört.

      „Herr Hauschild“, sprach ihn der Hauptkommissar freundlich an. „Ich verstehe, dass Sie etwas mitgenommen sind. Ich würde Ihnen aber trotzdem gern einige Fragen stellen. Wie haben Sie den Toten gefunden?“

      „Also, ich arbeite hier schon seit über fünfundzwanzig Jahren. Aber so etwas hab ich noch nicht erlebt.“

      „Das glaub ich Ihnen gern. Aber könnten Sie meine Frage beantworten?“

      „Ja, gewiss. Ich bin für diesen und einige der benachbarten Räume zuständig. Ich pflege immer langsam von einem Raum zum anderen zu gehen und überall eine gewisse Zeit zu verweilen. Und als ich dann heute wieder einmal hier reinkam, sah ich den Mann mit gesenktem Kopf da sitzen. Und da war plötzlich all das viele Blut. … Ich bin furchtbar erschrocken. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was eigentlich los war, … und dann hab ich Hilfe geholt.“

      „Wie lange waren Sie vorher nicht in dem Raum?“

      „Höchstens zehn Minuten.“

      „Ist Ihnen davor etwas Besonderes aufgefallen?“

      „Nein, es war alles wie immer.“

      „Und der Tote, war der da schon im Raum?“

      „Ja, er saß da, ganz versunken in den Anblick des Altars. Ich kannte ihn vom Sehen. Er war öfters hier. Der Altar schien es ihm besonders angetan zu haben.“

      „Wissen Sie vielleicht sogar, wie er heißt?“

      „Nein, ich hab zwar hin und wieder ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber seinen Namen … nein, tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen.“

      „Wär auch zu schön gewesen. Eine letzte Frage. Die ist aber besonders wichtig: Ist Ihnen in den Minuten vor der Tat hier irgendein Besucher besonders aufgefallen oder haben Sie etwas gehört? Der Täter hat zwar mit Sicherheit einen Schalldämpfer benutzt, aber auch so ein Schuss ist nicht völlig geräuschlos.“

      „Aufgefallen ist mir niemand besonders. Es sind zwar wie gewöhnlich einige Besucher durchgegangen. Aber das war alles ganz normal. Und gehört? Ehrlich gesagt, nichts. Meine Ohren sind nicht mehr die besten. Vielleicht lag es ja daran. Aber schauen Sie mal nach oben. Da ist eine Überwachungskamera. Die müsste den Mord eigentlich aufgezeichnet haben.“

      *

      Wenig später saßen die dreizehn Mitarbeiter des Museums, die gerade Dienst hatten, in einem Konferenzraum neben dem Foyer. Neun Frauen und vier Männer, die meisten schon in recht vorgerücktem Alter. Die Stimmung war gedrückt. Nur wenige unterhielten sich im Flüsterton. Sie konnten noch nicht so recht fassen, was hier gerade geschehen war. Als Travniczek und Lange den Raum betraten, verstummten die Gespräche mit einem Schlag.

      „Meine Damen und Herren“, sagte Travniczek, „ich kann gut verstehen, dass Sie immer noch unter dem Eindruck