Christoph Wagner

Metastasen eines Verbrechens


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gelegen haben? Vielleicht hatte ja alles keinen Sinn mehr. Sie versuchte, diese Gedanken beiseite zu schie­ben, und arbeitete mechanisch weiter.

      Bald kam Marianne zurück und sagte ganz schüchtern: „Dr. Milbraadt kommt in zwei Minuten.“

      Ruth Rosenbaum nahm das gar nicht wahr und sie achtete auch nicht darauf, dass ihr zweites Kind, die knapp einjährige Hannah, die in ihrer Wiege neben der Tür zum Garten lag, plötzlich fürchterlich zu schreien anfing. Verbissen fuhr sie mit ihren Wiederbelebungsversuchen fort: Drücken – loslassen – drücken – loslassen, nach vier Mal Luft in die Lungen blasen und wieder ausströmen lassen.

      Dann die Erlösung: Durch den kleinen Körper ging plötzlich ein Ruck und Fritzchen schnappte nach Luft. Sie drehte das Kind auf die Seite und es spuckte viel Wasser. Erleichtert atmete Ruth Rosenbaum tief durch. Die größte Gefahr schien gebannt. War doch noch einmal alles gutgegangen?

      In diesem Augenblick kam ein wohlbeleibter älterer Herr, trotz der Hitze mit einem dunklen längsgestreiften Anzug, weißem Hemd und graukarierter Weste bekleidet, heftig keuchend und völlig verschwitzt den Abhang herunter gelaufen. Es war Dr. Milbraadt, der langjährige Hausarzt der beiden Familien.

      „Wie sieht es aus?“, fragte er erregt.

      „Gerade eben hat er wieder zu atmen angefangen.“

      „Dann danken Sie Gott, dass Sie Krankenschwester gelernt haben. Wenn ich jetzt erst mit der Wiederbelebung beginnen würde, wäre es wahrscheinlich zu spät. Wie lange stand das Herz still?“

      „Ich weiß es nicht genau, aber einige Minuten waren es schon.“

      Dr. Milbraadt kniete sich mühsam neben den Jungen, sah in seine Augen und fühlte nach dem Puls, der schnell und unregelmäßig ging.

      „Das ist wunderbar. Haben Sie noch einmal ganz herzlichen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind.“

      „Aber beste Frau Rosenbaum, das war doch ganz selbstverständlich.“

      „Und – Fritzchen wird doch wieder ganz gesund?“

      „Das weiß Gott allein“, entgegnete Dr. Milbraadt zögernd. „Entscheidend ist, wie lange die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn tatsächlich unterbrochen war. Wir müssen einfach hoffen.“

      Er griff das Kind vorsichtig unter Schultern und Knien und trug es langsam den Hang hinauf. Es schien zu schlafen. Ruth Rosenbaum folgte mit den beiden anderen Kindern in einigen Schritten Abstand. Dr. Milbraadt legte den Jungen auf die Rückbank seines Wagens.

      „Ich sollte jetzt eigentlich mitfahren“, sagte Ruth Rosenbaum nervös, „aber ich kann die drei Kleinen ja nicht allein lassen – und ich muss der Mutter sagen, was passiert ist.“

      „Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte sie Dr. Milbraadt, „ich werde mich um Fritz kümmern, als ob es mein eigener Sohn wäre. Ich rufe Sie an, wenn ich weiß, wie es mit ihm weitergeht.“

      Er schloss die Türen seines Autos und fuhr Richtung Schloss davon. Als er hinter der ersten Kurve verschwunden war, registrierte Ruth Rosenbaum endlich, wie heftig die kleine Hannah schrie. Marianne hatte schon die Wiege in Bewegung gesetzt, um sie zu beruhigen. Aber das half nichts. Jetzt nahm die Mutter Klein-Hannah hoch und drückte sie an sich. Genau das schien sich die Kleine gewünscht zu haben. Schlagartig hörte sie auf zu weinen und sah ihre Mutter mit ihren großen braunen Augen freudestrahlend an. Da vergaß Ruth Rosenbaum für einen Moment den Schrecken, der ihr immer noch in den Gliedern steckte.

      Aber dann war die Angst wieder da. Sie musste jetzt gleich Maria, Fritzchens Mutter, anrufen. Die arbeitete zweimal in der Woche in der Buchhandlung Braun in der Hauptstraße. Sie musste ihr sagen, was geschehen war. Wie konnte sie sich rechfertigen? Gar nicht. Sie hätte einfach besser aufpassen müssen. Aber vielleicht wurde ja doch wieder alles gut.

      Was sich aus ihrer Nachlässigkeit tatsächlich einmal entwickeln sollte, ahnte sie nicht. Und das war sicher gut so.

      Freitag, 20. April 2012

      Petrus meinte es nicht gut mit den alten Leuten. Eine Kaffeefahrt nach Schriesheim* zur Strahlenburg* war angekündigt. Morgens hatte noch die Sonne von einem klar blauen Himmel geschienen. Aber dann waren von Westen über die Rheinebene mal wieder Wolken aufgezogen. Die Sonne hatte sich versteckt, und kurz, nachdem der Bus vom Michaelistift abgefahren war, hatte es zu regnen begonnen. Erst ganz sacht. Aber schon, als der Bus über die abenteuerlich schmale Straße von Schriesheim zur Strahlenburg hinauf fuhr, fielen die Tropfen dicht.

      Vom Parkplatz aus musste man noch gut hundert Meter bis zur Strahlenburg laufen. Es entstand Unruhe unter den achtunddreißig Ausflugsgästen, denn nicht alle hatten einen Regenschirm mitgenommen. Da hatte Frank Winterhorst, der als Begleiter mitgefahren war, eine Idee. Er griff nach dem Busmikrophon: „Liebe Leute, bitte keine Panik. Wer hat denn alles keinen Schirm dabei? Bitte mit deutlichem Handzeichen melden.“

      Er zählte die erhobenen Hände und kam auf elf.

      „Dann machen wir das so: Es gehen erst alle mit mir zum Restaurant, die einen Schirm haben. Ich sammle dann von denen die Schirme ein und hole dann die anderen ab. So wird keiner nass.“

      Applaus von den alten Leuten, den Winterhorst mit verschämtem Lächeln aufnahm.

      Vom nur mit Kies bestreuten Parkplatz aus gingen sie auf den beeindruckenden, noch gut erhaltenen Bergfried zu, erreichten die schon stark beschädigte Mauer und betraten durch ein Spitzbogentor das eigentliche Burggelände. Im Inneren war in die Ruine ein größeres Haus eingebaut, das das Restaurant beherbergte. An dessen Eingang wurden sie von einem Kellner nach rechts in den Rittersaal gewiesen, an dessen Stirnwand zwei altsilberne Rüstungen und zahlreiche Schwerter hingen. Dort hatte man für sie eine lange Tafel gedeckt.

      Auch Hannah Lewandowski, Hedwig Fahrenkopf und Fritjof Fries waren mitgefahren, die schon viel zusammen unternommen hatten. Die anfängliche Skepsis der beiden alten Damen war völlig verflogen. Aus der Tischgemeinschaft war eine Freundschaft entstanden. Seit Wochen schon waren sie nur noch zu dritt an ihrem Tisch, da Adolf Reimann so kränklich war, dass er es nicht mehr in den Speisesaal schaffte. Es bestand wenig Aussicht, dass er noch einmal zurückkäme.

      Eigentlich war für später auch noch ein Spaziergang geplant. Aber daraus würde bei dem Regen vermutlich nichts werden. Nun studierten erst einmal alle ausgiebig die Speisekarte. Die meisten bestellten Kaffee, Tee oder heiße Schokolade. Einige, so auch Fritjof Fries, nahmen gleich ein Viertel Wein. An der engen Kuchentheke bildete sich eine dicke Traube. Es dauerte, bis jeder gefunden hatte, was er suchte, und bis auch die bedient waren, für die der Gang an die Theke zu beschwerlich war.

      Allmählich kehrte Ruhe ein. Die meisten aßen zufrieden ihren Kuchen zum Kaffee. Einige murrten leise vor sich hin, da es ihnen nicht so recht schmecken wollte. Ja, als sie noch jung waren, da hätte Oma einen ganz anderen Kuchen gebacken.

      Fritjof Fries hatte als einer der wenigen keinen Kuchen bestellt, sondern Käsewürfel zum Wein, von denen er seinen Tischnachbarn und vor allem -nachbarinnen wiederholt anbot, die aber dankend ablehnten.

      Frank Winterhorst indessen überlegte