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Marie Miro
Das Haus mit der Ecke
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Inhaltsverzeichnis
1
Hallo, du tapferer Eroberer dieser Zeilen. Hallo, du tapfere Abenteurerin dieses Buches. Wenn ihr dieses Büchlein nicht alleine lest, dann werden euch viele Erwachsene so nebenbei erzählen, dass die hier beschriebenen Erlebnisse von dem Haus mit der Ecke und seinen Freunden nur frei erfunden sind. Aber, ich sage euch, sie sind absolut wahr. Und selbst wenn diese Geschichte erfunden wäre, müsst ihr nur fest genug daran glauben, dann werden nämlich alle erfundenen Geschichten wahr werden. Übrigens, auch Erwachsene dürfen sehr gerne und ganz fest
daran glauben.
Das einmal vorweg.
So, wo fangen wir jetzt am besten an?
Nun, vielleicht erzähle ich euch erst einmal von dem Haus mit der Ecke. Das Haus mit der Ecke lebt in einer Stadt mit vielen Menschen, die jeden Tag an ihm vorbei in die Arbeit laufen. Dabei blicken sie das Haus mit der Ecke gar nicht mehr an, sondern starren alle auf ihre Telefone und reden mit Menschen, die gar nicht da sind. Früher, als das Haus mit der Ecke noch jung war und die Farbe an den Holzwänden noch feuerrot strahlte, da gab es solche Menschen noch nicht. Wer damals lautstark andauernd allein vor sich hingesprochen hat, den brachte man sicherheitshalber einmal ins Krankenhaus. Heute ist das anders. Doch nun zum Haus mit der Ecke selbst. Es ist ein kleines Holzhaus, die feuerrote Farbe ist etwas verblasst, doch die Fassade ist trotzdem beileibe nicht hässlich. Die Fensterläden an den fünf Fenstern sind dunkelgrün. Im Haus gibt es nur zwei Räume, ein kleines Schlafzimmer mit einem gemütlichen Bett darin und ein größeres Zimmer, in dem eine kleine Kochnische, ein uralter Ohrensessel, ein alter, dunkelbrauner Tisch, zwei ebenso dunkle Eichenschränke, ein Kamin aus alten Backsteinen und viele Bücher in einem Regal stehen. Außerdem hängen zahlreiche Bilder an den Wänden. Auf der einen Seite ist die Haustür, auf der anderen Seite führt ein Durchgang in den Wintergarten, von dem man aus einen tollen Blick nach draußen hat und in dem eine gemütliche Liege und viele Töpfe mit grünen und knallbunten Blumen stehen. An der Decke neben dem Kamin sieht man eine kleine Eisentreppe, die man nach unten ziehen kann und damit in den Speicher kommt, der voll steht mit Kisten, in denen tausend Erinnerungen stecken – und noch viel mehr.
Rund um das Haus ist eine kleine grüne Wiese. Früher, als sich Anna, die Bewohnerin des Hauses, noch besser bewegen konnte, pflanzte sie dort jeden Frühling ganz viele Blumen an. Da gab es zart gelbe Löwenmäulchen, purpurfarbene Dahlien, violette Glockenblumen, rote Nelken, weiße Lilien, orange-roten Klatschmohn, kräftig gelbe Sonnenblumen, weiß-gelbe Margeriten, königsblaue Tulpen, feuerrote Rosen und viele mehr. Je bunter und farbenprächtiger die Blumen waren, desto mehr freute sich Anna. Doch inzwischen ist sie eine alte Großmutter geworden und kann sich nicht mehr so gut bewegen wie früher. Daher gibt es nur noch die kleine Wiese, die um das Haus mit der Ecke herumführt. In fünf großen Schritten erreicht man jeweils das Ende des Grundstücks. Drum herum stehen moderne Mehrfamilienhäuser und zwei große Hochhäuser, die mit ihrer Glasfront und den über zweihundert Fenstern hochnäsig auf das kleine Haus mit der Ecke hinunterblicken und es immer mal wieder belächeln.
Ach, ihr fragt euch, warum das Haus mit der Ecke eigentlich so einen komischen Namen hat?
Nun, das kam so. Um das Grundstück führt ein kleiner Holzzaun, doch der ist so alt und löchrig, dass einzelne Latten schon teilweise herausgebrochen sind. Und so schleichen sich Katzen und streunende Hunde immer wieder nachts hindurch und laufen zu der einen Ecke am Haus. Die Holzbalken dort sind von dem Schnee und dem Tauwetter im Winter rau und spröde geworden. Die perfekte Möglichkeit, sich das Fell zu kratzen an Stellen, wo man sonst als Katze und vor allem als Hund nicht so gut hinkommt. Und so ist diese eine Ecke immer dunkler und schwärzer geworden, sodass irgendwann der Name feststand: Das ist das Haus mit der Ecke.
Es ist ein gemütliches Haus, eines von den Häusern, wo man gerne zu Gast ist. Ihr habt sicherlich schon einmal so ein Haus in eurer Nachbarschaft gesehen, oder? Vielleicht wohnt ihr auch selbst in einem. Es strahlt eine Gemütlichkeit aus, die man nicht kaufen, nur erleben kann. Und in der warmen Stube macht Oma Anna immer eine dampfend heiße Schokolade für alle Besucher. Nur sind in den vergangenen Jahren immer weniger Menschen gekommen. Doch Oma Anna ist nicht allein, auf dem Dachboden leben Max und Barbara. Max ist ein pechschwarzer Rabe, der schon viel herumgereist ist und es sich jetzt zwischen zwei Kisten mit alter Kleidung gemütlich gemacht hat. Er liebt den Herbst, wenn die Winde kräftiger werden und er für Minuten einfach nur in der Luft schweben kann und die Menschen beobachtet, die wie kleine Punkte auf den Straßen herumrennen. Und auf den Feldern sieht er manchmal noch Kinder, die knallbunte Papierdrachen steigen lassen und dann blinzelt er zu den Kollegen in der Luft hinüber. Im Sommer streift er dagegen über die Felder der Bauern und ruht sich am liebsten auf dem Kopf einer Vogelscheuche aus. Da hat er das ganze Feld im Blick. Er hört gerne dem Rauschen von Weizenfeldern zu, wenn sich die einzelnen Gräser im warmen Wind hin und her wiegen. Ansonsten ist Max ein Feinschmecker, seine Leibspeise sind Regenwürmer, ganz frisch aus dem noch feuchten Boden. Barbara dagegen liebt altes Brot, dessen Kruste schon hart geworden ist. Und dunkelrote, saftige Äpfel. Ach, ich sollte vielleicht noch erwähnen, Barbara ist eine Ratte mit grauschwarzem, wuschelweichem Fell. Sie lebt auch auf dem Dachboden, allerdings in einer Kiste. Mit ihren spitzen Zähnen hat sie vor einem Jahr ein Loch in eine Ecke gebissen und es sich dann dort gemütlich eingerichtet. Sie hat sich auch nicht irgendeine Kiste ausgesucht, sondern jene, in der Oma Anna Theaterkostüme und Masken aufbewahrt. Für Barbara war sofort klar, dass Oma Anna früher einmal eine Schauspielerin gewesen sein muss. Ihr müsst wissen, Ratten sind sehr gute Menschenkenner und so saß Barbara manchmal spät nachts auf dem Küchentisch, naschte noch etwas vom Teller mit den Speiseresten und beobachtete dabei Oma Anna sehr genau, wie sie in ihrem dunkelroten Ohrensessel versunken war und schlief, ein offenes Buch auf ihren Schenkeln und eine Lesebrille auf ihrer Nase. Und in ihrem Gesicht konnte Barbara sehen, wie sich die alte Dame zurück träumte und noch immer den Applaus des Publikums hören konnte, noch immer den Geruch von Schminke vor sich hatte und noch immer den knarzenden Theaterboden hören konnte. Und dann huschte ein Lächeln über das wunderschöne, faltige Gesicht. Es strahlte. Anna war glücklich. Und Barbara auch.